Dienstag, 14. August 2012

"Entschleunigtes Sehen"


Bildpostkarte von 1911, Sammlung Nagel

Ein Panoramen-Maler bei der Arbeit
(Holzstich von 1888, Sammlung Nagel)
Im 19. Jahrhundert existierten in vielen Städten große steinernde Rotunden, in denen riesige Rundgemälde gezeigt wurden. Die Besucher konnten von erhöhten Plattformen in der Mitte der Gebäude Landschaften, Städte oder historische Ereignisse betrachten. Die enormen Ausmaße der Bilder, ihre detailreiche, realistische, "polyperspektivische" Malweise und die Rundumsicht schufen für den Menschen des 19. Jahrhunderts nicht nur die Illusion realistischer Blicke auf fremde Orte und vergangene Zeiten, die Panoramen ließen sie in diese fernen Welten geradezu eintauchen.

Mit dem Aufkommen des Kinos um die vorletzte Jahrhundertwende endete scheinbar die Epoche der großen Panoramen und nur sehr wenige dieser beeindruckenden Unterhaltungs- und Bildungsmedien des 19. Jahrhunderts blieben erhalten.


Für die "Industrie-, Gewerbe und Kunst-Ausstellung in Düsseldorf 1902 wurde kurzzeitig ein 
Panorama in zeitgemäßer Jugendstil-Architektur errichtet. Gezeigt wurde Büchers
 Rheinüberquerung bei Kaub im Jahre 1814. (Sammlung Nagel)


Wider Erwarten begann jedoch in den 1970er Jahren eine Renaissance des Panoramas, für die in Deutschland das Bauernkriegspanorama des Malers Werner Tübke in Frankenhausen steht, der daran von 1976 bis 1987 arbeitete. 

Mit den monumentalen, computergestützten Arbeiten des Künstlers Yadagar Asisi erlebt das Panorama sogar eine regelrechte neue Blüte. Mit einem hohen Anspruch an größtmögliche Wirkung, Authentizität und Detailreichtum ließ Asisi bisher u.a. das barocke Dresden, Rom zu Zeiten Konstantins oder das antike Pergamon wieder auferstehen. 
In Dresden und Leipzig nutzt er als Stätten eines "entschleunigten Sehens" Gasometer aus dem 19. Jahrhundert, die den originalen Panoramabauten dieser Zeit sehr nahe kommen und sinnreich als "Panometer" bezeichnet werden.



Samstag, 24. März 2012

King Kongs Ahnen

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Titelbild einer Ausgabe der "Meggendorfer Blätter" von 1920


Kampf der Karthager gegen die "wilden haarigen Menschen"
Kulturbilder der Berliner Morgenpost, März 1940
Um 500 v.Chr. wurden während er Erkundung Westafrikas durch die Karthager erstmals Gorillas erwähnt. "Hanno der Seefahrer" berichtete von einer äußerst gewaltsamen Begegnung mit "wilden haarigen Menschen", die die Eingeborenen Gorillas nannten. Die Karthager töteten drei der Tiere und schickten ihre Felle in die Heimat.

Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts erlangten die großen Menschenaffen wieder Beachtung, wobei zu dieser Zeit Vorstellungen entstanden, die das Bild vom Gorilla zu einem nicht unwesentlichen Teil bis weit ins 20. Jahrhundert prägten und die nicht zuletzt im Filmklassiker "King Kong und die weiße Frau" ihren Niederschlag fanden.
Entscheidenden Anteil hieran hatten ein französischer Bildhauer und nicht zuletzt die Schausteller:
King Kongs Ahne -
Abbildung aus dem Führer durch
 Trabers Panoptikum um 1900
Inspiriert durch Nachrichten vermeintlicher Entführungen von Frauen durch männliche Gorillas schuf Emmanuel Fremiet seine skandalträchtige Skulptur, die eben solch eine gewaltsame Szene zeigt. Die Schausteller nahmen sich dieses für sie wie geschaffenen Themas rasch an, wobei Berichte, dass nicht nur "Negerfrauen", sondern sogar eine weiße Farmerstochter Opfer eines solchen Gewaltakts gewesen sein soll, die Publikumswirksamkeit noch erhöhten.
Fremiets Skulptur diente offenkundig als Vorlage für entsprechende Wachsfiguren in verschiedenen Panoptiken.
http://wachsfigurenkabinett.blogspot.de/2008/11/um-1910-sammlung-nagel-das.html


Das Gorilla-Thema blieb in verschiedenen Variationen auf dem Jahrmarkt präsent.
http://schaubuden.blogspot.de/2008/04/schaubusenbesitzerinnen-und.html

Die Ahnen King Kongs und seiner weißen Frau fanden sich als eine der zahlreichen Varianten des "Die Schöne und das Biest-Themas" in stationären Panoptiken und Schaubuden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam er für kurze Zeit zurück auf den Rummelplatz. Dem zeitgemäßen "Bild vom Gorilla" wird diese zweifelhafte Präsentation des Gorillas als wilde Bestie glücklicherweise nicht mehr entsprochen haben:
Schaustellerzettel 60er/70er Jahre des 20. Jh.

Abbildungen: Sammlung Nagel


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Sonntag, 12. Februar 2012

Georges Méliès II

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Vor vier Jahren schrieb ich in diesem Blog, dass Leben und Werk des Filmpioniers Georges Méliès selbst Stoff für großes Kino bieten: http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=5833535425401595222&postID=4415243346754706426
In Hollywood scheint man mitgelesen zu haben ;) :), heute sah ich "Hugo Cabret" von Scorsese - beeindruckende Bilder und eine wirkliche Hommage an diesen großen Künstler, der nun sicherlich etwas mehr von der ihm gebührenden Berühmtheit erlangt.
Leider bieten die flache und rührselige Handlung sowie die Dramaturgie nur Hollywood-Mainstream-Einheitsbrei. Schade, dass sich nicht Tim Burton seines großen "seelenverwandten" Vorgängers angenommen hat ...
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Sonntag, 4. Dezember 2011

Vorhang auf, Film ab


Filmplakat italienischer Herkunft für einen "Sandalenfilm"

"Das letzte Geheimnis" Plakat aus den 50er Jahren (Detail)
Jahrmarkt und Varieté bilden die Ursprünge des Kinos. Die ersten "lebenden Bilder" wurden in Schaubuden ("Kinematographen", "elektrischen Theatern", "Bioscopen"), und als Teil von Varietévorstellungen gezeigt. Die Programme waren auf das Publikum dieser volkstümlichen Unterhaltungsstätten zugeschnitten und boten neben dokumentarischen Aufnahmen, trivialdramatische und humoristische Spielszenen, Artistik sowie die ersten Filmtricks in der Tradition der Bühnenillusionisten.

Insbesondere im Bereich reißerischer "B-Movies" konnte das Kino diese Herkunft vom Schaustellungswesen lange Zeit nicht verleugnen, was sich nicht zuletzt in der Gestaltung der Filmplakate zeigt. Die Filmplakate erinnern im Stil oftmals an Schaustellerplakate.



Filmplakat von Renato Casaro
Aus dieser Tradition heraus mag sich auch der typische Stil italienischer Plakate für Sandalen-, Horror- Erotik- und Westernfilme sowie Circusse und Schaustellungen erklären. Italienische Graphiker wie Colizzi, Casaro oder Picchioni arbeiteten sowohl für die Filmindustrie als auch für Circusse.







Detail der Fassadenbemalung eines Schaugeschäfts

Nach kurzer Zeit war es das Kino, das den Schaustellungssektor beeinflusste, so sind Leinwand-Größen bis heute ein beliebtes Motiv für die Gestaltung der unterschiedlichsten Geschäfte.

Die Popularität des Kinos hatte aber auch Auswirkungen auf die Art diverser Schaustellungen, die sich nicht selten thematisch an erfolgreichen Filmen orientierten. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit war in den 80er Jahren das Wiederaufkommen von Hai-Schaustellungen im Gefolge des Kassenhits "Der weiße Hai".




Bilder: Filmplakate Sammlung Nagel
          Foto Nagel
          Werbeflyer für eine Hai-Show mit einem Entwurf von M. Ferrari, Sammlung Nagel



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Dienstag, 29. November 2011

Das kenn' ich doch ...

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Meine "Verwunderung" war groß, als ich beim Durchblättern eines Bändchens über den Bremer Freimarkt aus dem Jahr 2010 auf einige nur geringfügig veränderte Textpassagen aus "www.schaubuden.de" stieß, die nicht als Zitate kenntlich gemacht sind, die Quelle wird nicht einmal im Quellenverzeichnis aufgeführt.
Folgende Beispiele mögen die kritikwürdige Art der Aneignung z.T. prägnanter fremder Formulierungen - meiner und der von mir zitierten - belegen. Stellen aus "schaubuden.de" sind grün unterlegt, Texte aus Johann-Günther König: Der Bremer Freimarkt. Bremen, Kellner 2010, rot.

Für Illusionsbuden waren gute Rekommandeure, die während der “Parade” mit Kostproben der Vorstellung vor der Schaubude das Publikum anlockten, besonders wichtig. Oftmals hatten die Budenbesitzer diese Rolle selbst inne. Sie geizten nicht mit den phantastischen Übertreibungen und versprachen all das, was die Besucher an Sensationen, Wundern, Exotik, Erotik erwarteten, humorvoll, oft augenzwinkernd (...) - und immer reißerisch. “Die breite Masse wollte dem Zauber der Illusion erliegen bzw. wollte über ihre Einfältigkeit selber lachen können. (...)" (La Speranza 1997, S.50)  (S.41)
Insbesondere für Illusionsbuden waren gute Rekommandeure ein Muss. Oftmals übernahmen die Budenbesitzer diese Rolle selbst und geizten gewiss nicht mit fantastischen Übertreibungen. Kurz, sie versprachen augenzwinkernd und garantiert reißerisch all das, was die Freimarktsgänger an Sensationen, Wundern, Exotik und nicht zuletzt Erotik erwarteten.  Die als stocksteif verschrienen Bremer wollten einmal im Jahr der Illusion erliegen oder über ihre Einfältigkeit einmal selbst lachen können. (S.54f)

Der Jahrmarkt trug durchaus dazu bei, dass breite Bevölkerungsschichten ihr Wissen von der Welt erheblich erweitern konnten. (...), die “anatomischen Kabinette” in den Panoptiken gewährten Einblicke in das Innere des menschlichen Körpers, außerdem zeigten sie neben Wachsbildnissen bekannter Persönlichkeiten allerlei Naturkundliches sowie mitunter auch „hervorragende Erfindungen der Neuzeit“ wie z.B. Röntgenapparate und –bilder. (S.14)
Der Freimarkt trug zweifellos dazu bei, das Wissen von breiten Bevölkerungsschichten zu erweitern. Nicht zuletzt die "anatomischen Kabinette" ermöglichten normalerweise kaum mögliche Einblicke in das Innere des menschlichen Körpers. Hinzu kam die Demonstration von Röntgenapparaten und "anderen "hervorragenden Erfindungen der Neuzeit" mehr. (S.54)

Im weiteren spricht König von "komplett mit allem Zubehör von spezialisierten Herstellern gelieferten"  Spiegelillusionen, mit denen vor allem "der weibliche Körper in Teilen oder oder auch seltsam entfremdet präsentiert wurde" (S.55) - genau meine Worte ... (S.35/ 38)

Die Schaugelüste in diesen prüden Zeiten waren dabei auch erotischer Natur: “Die erotische Faszination der ‘muskelös-sehnigen, schlanken, geschmeidigen Menschen, die fast völlig nackt gingen’, blieb nicht auf Männer beschränkt, auch wenn die überproportionale Besetzung der Völkerschauen mit möglichst ‘ursprünglich’ bekleideten Frauen deutlich auf männliche Bedürfnisse berechnet war. In der Presse wurde aber vor allem immer wieder hervorgehoben, wie die ‘herkulisch-animalischen’ Körper der Neger besonders die ‘Damenwelt’ faszinierten. (...)” (Stephan Oettermann in Kosok/ Jamin 1992, S.96)
 (...) Viele Schaubuden zeigten keine “ungezügelten Wilden”, (...): “Aber sie holten sich dazu keine Afrikaner, das wäre zu teuer. Ihre Arbeitsburschen mußten sich Hände und Gesichter mit Schuhcreme einschmieren, und schon waren die ‘Neger’ fertig!” (Kürschner 1998, S.25f) (S.144)
Wenn auch die überproportionale Besetzung des Völkerschauen mit angeblich "ursprünglich" bekleideten Frauen zweifellos auf die männlichen Bedürfnisse zielte, so waren die erotischen Schaugelüste in jenen prüden Zeiten zugleich auch ein Bedürfnis der Damen, denen Presseberichten zufolge "muskulös-sehnige" bzw. "herkulisch-animalische" Körper der "Neger" zusagten. 
... Allerdings zeigte so manche Schaubude gar keine "ungezügelten Wilden" - denn die Afrikaner waren vielen Schaustellern zu teuer. Sie beschäftigten schlanke Arbeitsburschen, die sich mit Schuhcreme einschmieren mussten. (S.58)

Von Verlagsseite wurde mir mitgeteilt, dass die Angabe im abschließenden Quellenverzeichnis versehentlich nicht aufgenommen wurde und zukünftig ein Aufkleber mit entsprechendem Nachtrag eingeklebt werde. So ein Versehen kann passieren und mit dem Aufkleber wird angemessen reagiert.
Die oben dokumentierte Art der Aneignung fremder Texte durch den "freiberuflichen Autor" und Vorstandsmitglied regionaler Schriftstellerverbände Dr.(!) Johann-Günther König muss in diesem Fall jedoch weiterhin kritisiert werden. Entweder mache ich genaue oder indirekte Zitate entsprechend kenntlich oder ich schreibe meine Texte selbst. 

Auch in anderen Veröffentlichungen wurde sich auf unredliche Weise bei "schaubuden.de" bedient. In den "geringsten" Fällen mit Zitaten, die nicht auf eigener Recherche beruhen, sondern - so übrigens ebenfalls hier - einschließlich der Quellenangaben einfach bei "schaubuden.de" abgeschrieben wurden.

Mittwoch, 14. September 2011

Guck 'mal!

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Detail eines Notentitels um 1910

Das Leben der einfachen Leute war bis weit ins 19. Jahrhundert im Vergleich zu heute von einer ausgesprochenen Bilderarmut geprägt. Einblicke in die Welt außerhalb des begrenzten Lebensraums ermöglichte vor allem der Besuch des Jahrmarktes. So konnte man Guckkastenmann für kleines Geld im wahrsten Wortsinne Einblicke in fremde Länder, große Städte sowie prachtvolle Paläste gewinnen.
Die Kästen verfügten über eine vergrößernde Linse und oftmals über einen Spiegel, der hinter der Linse in einem 45°-Winkel angebracht war. Dies verstärkte die räumliche Wirkung und die die Blätter konnten einfach eingelegt werden.

Guckkastenbild von Amsterdam, Ende 18.Jh., Sammlung Nagel

Die Beleuchtung der Szenerien erfolgte durch Tageslicht oder auch künstliche Lichtquellen im Kasten.
Mitunter ermöglichte eine vor und hinter dem Blatt angebrachte Beleuchtung Tag und Nacht im Wechsel darzustellen. Fensteröffnungen oder Himmelspartien der Guckkastenblätter wurden dazu mit farbigem Transparentpapier hinterlegt, so dass Fenster, Laternen, Gestirne usw. in der Nachtansicht leuchten.
Auch bei der Beleuchtung durch Tageslicht konnte ein Wechsel der Tageszeiten durch einen regulierbaren Lichteinfall simuliert werden. Bei einigen Blättern, den sogenannten Verwandlungs- oder Durchscheinbildern, änderte sich mit dem Wechsel des Lichteinfalls die Szenerie noch weitgehender.

Im Verlauf des 19. Jahrhundert waren die umherziehenden Guckkastenmänner immer seltener anzutreffen. Auf den Jahrmärkten kamen Kleinpanoramen auf, in denen Bilder bzw. Dioramen ebenfalls durch Linsen betrachtet werden konnten. Die eigentlichen Guckkästen hielten sich noch recht lange Zeit im Miniaturformat vor allem zur Kinderunterhaltung.


Foto Nagel
Mit den seit den 1950er Jahren produzierten "Plastiskopen" konnte sich eine Art Miniaturguckkasten bis in die Gegenwart retten. Diese kleinen bunten Bildbetrachter, bezeichnenderweise zumeist in der Form von Fernsehern, waren bis in die 70er beliebte Urlaubs-Souvenirs. Durch eine kleine Vergrößerungslinse können Serien von einigen wenigen Bildern betrachtet werden.
Oft handelt es sich bei diesen Miniatur-Dias, die durch Knopfdruck weitertransportiert werden, um stark nachkolorierte Photographien ausgesucht idyllischer, sonnenbeschienener Motive. Als Kind waren diese Mitbringsel für mich von ganz besonderem Reiz; zeigten sie doch die mehr oder weniger fernen Reiseziele in einem ganz besonderen Licht - und überaus farbenprächtig. Heute bewirken die alten Bildserien zudem einen sehr reizvollen, fast verklärenden Blick auf die 50er und 60er Jahre.



Mittwoch, 27. Juli 2011

Der falsche Doktor und die Surrealisten

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Die Schaustellungen auf dem Jahrmarkt lieferten Anregungen für zahlreiche Werke von Literaten und bildenden Künstlern, aber auch von Fotografen und darstellenden Künstlern.
Im Fall des Malers Paul Delvaux (1897-1994) bildete der Besuch in einer Schaubude sogar einen entscheidenden Anstoß für seine Wandlung zu einem der bedeutendsten surrealistischen Maler: "Als die Brüsseler Kirmes öffnete, ging ich jeden Morgen und Abend dort spazieren, und da sah ich, dass es dort eine Bude gab, in der das Spitzner-Museum untergebracht war. Dieses Spitzner-Museum war für mich eine großartige Entdeckung. Das war wirklich eine sehr wichtige Wende, und ich kann Ihnen heute sagen, dass diese Entdeckung zeitlich zwar vor der De Chiricos lag, dass sie aber die gleiche Bedeutung hatte. (...) Die Entdeckung des Spitzner-Museums hat meine Auffassung von der Malerei verändert. Ich stelle damals fest, dass man durch die Malerei ein Drama ausdrücken und dabei doch ganz im plastischen Bereich bleiben konnte. Vor allem der Gegensatz zwischen dem Drama, der Pseudo-Wissenschaftlichkeit des Spitzner-Museums, der ungesunden, ungewöhnlichen und düsteren Atmosphäre und der Umgebung auf dem Marktplatz mit den Buden, den Karussells und der Musik, deren Fröhlichkeit aufgesetzt klang. Das war ein ganz starker Gegensatz zu dieser Seite." (1)

Das Spitzner-Museum, welches Delvaux in den frühen 1930er Jahren Anregungen für zahlreiche Bilder lieferte und im Jahr 1943 sogar titelgebendes Thema eines seiner Hauptwerke war (2), zählte zu den anatomischen-pathologischen Wachsfigurenkabinetten, die sich aus den entsprechenden Sonderabteilungen der Panoptiken entwickelt hatten (3). Wie einige seiner Kollegen auch, hatte sich Pierre Spitzner einen falschen Doktortitel zugelegt.
Delvaux beschreibt das Spitzner-Museum als "ziemlich lange Hütte mit Samtvorhängen". "An einer Wand war eine Darstellung von Doktor Charcot, der eine hysterische Frau in Trance einem Auditorium von Wissenschaftlern und Studenten vorführte. Dieses Bild war umso beeindruckender, als es sehr realistisch gemalt war. Mitten im Eingang zum Museum saß die Kassiererin, umgeben von einem menschlichen Skelett und, mehr im Vordergrund, von einer mechanischen Puppe in einer Glasvitrine: die Schlafende Venus. An der anderen Wand hing eine Darstellung Doktor Pasteurs am Krankenbett eines Kindes. Im Innern des Museums gab es eine Reihe ziemlich schrecklicher und dramatischer anatomischer Wachsabgüsse, an denen man die Schrecken der Syphilis und der Missbildung studieren konnte. Und das alles mitten in der hektischen Fröhlichkeit der Kirmes. Dieser Kontrast war so erregend, dass ich tief beeindruckt war. Ich kann ihnen versichern, dass dies lange Zeit große Auswirkungen auf mein Leben gehabt hat." (4)

Die erwähnte "Schlafende Venus", die Wachsfigur einer schönen jungen Frau, war Bestandteil vieler Wachsfigurenkabinette und zielte wie einige andere Exponate auch vor allem auf die Schaulust bzw. die Phantasien des männlichen Publikums. Eine besondere Variante, die ebenfalls bei Spitzner ausgestellt war, stellte die "Anatomische Venus" dar.  Eine "Anatomische Venus" ließ sich zerlegen und ermöglichte so den Blick in das Innere des Körpers. Sie war oft das wertvollste Stück der Sammlung und wurde i.d.R. vom Besitzer persönlich vorgeführt.

Die Schlafende Venus aus Spitzners Panoptikum war ein immer wiederkehrendes Motiv bei Paul Delvaux: "Jede Schlafende Venus, die ich gemalt habe, hat dort ihren Ursprung. Sogar die, die in London in der Tate Gallery hängt. Sie ist die exakte Transkription der Schlafenden Venus aus dem Spitzner-Museum, allerdings mit griechischen Tempeln oder Schaufensterpuppen, mit allem, was sie wollen. Das Drumherum ist gleichgültig, aber das tiefe Gefühl hat seinen Ursprung dort." (5)

Spitzner präsentierte in seiner umfangreichen Sammlung besonders vielfältige und makabere, aber auch sehr qualitätsvolle Wachsmodelle, die "derart lebensnah und gleichzeitig befremdlich wirkten", dass sie außer Delvaux "mehreren Surrealisten zu neuen Ideen und Sehweisen verhalfen." (6) 
Die Vermutung liegt nahe, das auch der berühmte Prolog im Film "Der andalusische Hund" von Bunuel und Dalí (1928/29) von einer Moulage in Spitzners-Sammlung oder einem anderen "anatomischen Museum" inspiriert war. Moulagen diverser Operationstechniken bildeten einen Hauptbestandteil dieser Panoptiken, wobei die obligatorische Darstellung des Starstechens noch zu den harmloseren Beispielen zählte. Bunuel will durch einen Traum zu seiner Szene angeregt worden sein - vielleicht war es letztlich aber der Besuch in einem Panoptikum: 

"Der andalusische Hund" - Szenenbild aus dem Prolog
Moulage aus Spitzners Sammlung (7)


(1) Barbara Emerson: Delvaux. Antwerpen 1985, S.57
(2) http://en.wahooart.com/A55A04/w.nsf/Opra/BRUE-7ZS7EQ
(3) siehe www.schaubuden.de , Kapitel I
(4) Emerson 1985, S.57f
(5) ebenda, S.119
(6) Der Spiegel 23/1985, S.210f
(7) Guido van Genechten: Kermis. Het Spiegelpaleis van het Volk. Gent 1986, S.186


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Samstag, 16. Juli 2011

Der Vegetarier als Freak

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Zum Beginn des 20. Jahrhunderts Jahren waren für weite Teile der Bevölkerung den Möglichkeiten zum Ausleben der eigenen Individualität noch Schranken gesetzt, ein "standesgemäßes", den allgemeinen Vorstellungen entsprechendes "normgerechtes" Aussehen war selbstverständlich. Um so größer war das Interesse  am "Abnormen", am "Andersartigen", von dem nicht zuletzt die Schaubudenbesitzer profitierten. Ein Beispiel sind die Ganzkörpertätowierten, die früher häufig ihr Auskommen als Schauobjekte fanden und heute kaum noch beachtet werden. Das Schaulust am "Abnormen" ist dabei durchaus nicht zurückgegangen, ihre Objekte sind nur zum Teil andere geworden - und die Orte ihrer Präsentation ...
Auch nicht konforme Verhaltensweisen weckten stets die Neugier. Obwohl der Vegetarismus zur Jahrhundertwende bereits viele Anhänger hatte und sich in der Folgezeit zu einer recht breiten Bewegung entwickelte, konnte der Vegetarier Josef Weisgärber aus seiner "abnormalen" Lebensführung sogar Profit schlagen:

Sammlung Nagel

Sonntag, 10. Oktober 2010

Freaky Decade

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Während in den siebziger Jahren „Freaks“ hierzulande allenfalls noch in Form der unvermeidlichen "Zwerg-Auguste" in großen Circussen im Schaustellungsbereich in Erscheinung traten, schienen sie zu dieser Zeit eine besondere Faszination auf Künstler und Intellektuelle ausgeübt zu haben. Beispiel hierfür mögen die damals aufkommende Popularität der Fotos von Diane Arbus oder die Wiederentdeckung von Tod Brownings Filmklassiker „Freaks“ sein.

Das bis heute gültige Standardwerk populärer Art zum Thema, „ShowFreaks und Monster“, erschien 1974. Der Autor Hans Scheugl stellt hierin die bekanntesten „Showfreaks“ vergangener Tage vor und  führt interessante Aussagen zum Begriff und zur „Psychologie“ des „Freaks“ sowie zur Abgrenzung des vermeintlich „Normalen“ vom „Abnormalen“ auf. Am Ende des Buches findet sich eine Seite mit einem leeren Rahmen: Hier hat der Leser die Möglichkeit, sein eigenes Konterfei einzukleben.
Die Abbildungen stammen von dem Artisten und Sammler Felix Adanos, der mit seinem „Panopticum 1900“ eine viel beachtete Ausstellung zum Thema „Rrrrrraritäten, Kuriositäten, Extremitäten und Athleten“ präsentierte.

Viele Beispiele für künstlerische Auseinandersetzungen mit der Thematik lieferte immer wieder André Heller. Besonders im Filmschaffen waren „Freaks“ sehr präsent, so bei Ulrike Ottinger in ihrem recht sperrigen Film „Freak Orlando“ von 1981.
Großer Popularität erfreuten sich hingegen die großartigen Filme Federico Fellinis und natürlich die Verfilmung der „Blechtrommel“ mit dem „Freak“ Oscar Matzerath als Hauptfigur.

In den 80ern überwog die "Poltical Correctness", der "Freak" wurde in erster Linie als behinderter Mensch angesehen, dessen "Außerordentlichkeit" bzw. "Besonderheit" möglichst bewusst zu übersehen war. Ein Beispiel ist die Kritik am Engagement von "Klein Helmut" beim Circus Roncalli im Jahre 1983, das schließlich nicht fortgesetzt wurde: "Der kleine Mann leidet entsetzlich unter seinem Ausschluß, Klein Helmut ist ausgestoßen aus dem Königreich der Spaßmacher, wo er jahrelang König war. Niemand von all den modisch-kritischen, (...) intellektuellen, alles hinterfragenden Szene-Mitgliedern hat ihn gefragt, ob er seine Arbeit gerne gemacht hat." (Bernhard Paul in Roncalli und seine Artisten, Köln 1991, S.135)

In der zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends scheint eine neue Lust am Bizarren, "Abnormen" aufzukommen, so tourt z.B. die Gruppe „Tiger Lillies“ erfolgreich mit ihrer "Freak-Show" durch die Lande und die Schauspielerin und Clown-Frau Katharina Witerzens präsentiert sich in ihrem Solo-Programm "Schaubude" u.a. als "kleinwüchsige Prinzessin Perla" sowie als "die hässlichste Frau der Welt". 
Auch in Shows, die auf ein breites Publikum abzielen, spielt das Thema "Freaks" eine zunehmend große Rolle, so in den erfolgreichen "Horror Circussen" oder im Programm "Freaks" der GOP Varieté-Gruppe. 2018 wird sogar der bedeutende Circus Flic Flac eine neue Produktion mit dem Titel "FREAKs" präsentieren.

Die (erneute) Hinwendung von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen zur Thematik mag andere Gründe haben - fällt aber zeitlich auch in diesen Rahmen. Drei Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum sind "Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert" von Birgit Stammberger (Bielefeld 2011), "Monstrosität, Malformation, Mutation: Von der Mythologie zur Pathologie" von Stephanie Nestawal (Frankfurt/M. 2010) und "Deformation und Transdifferenz. Freak Show, frühes Kino, Tod Browning" von Lars Nowak (Berlin 2011).

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Freitag, 17. September 2010

Spidora



Der Schriftzug für meinen neusten Schaubudenaushang ist diesmal nicht einem amerikanischen Sideshow-Banner entlehnt, sondern B-Movie-Plakaten der Horror-, Sciene Fiction- und Krimisparte aus den 50er Jahren. Er passt ganz gut zu diesem weiteren Klassiker unter den Schaubuden-Illusionen, dem Spinnenweib "Spidora" oder "Arachna", wie sie hierzulande oft hieß.            

Die schwarzhaarige Marylin nach dem bekannten Warhol-Bild verkörpert die weibliche Spinne, die ihren Partner nach der Paarung gleich noch einmal "vernascht", wobei die Knochen diesen reißerischen Aspekt noch verstärken sollen. Diese Spiegelillusion einer Riesenspinne mit einem sprechenden Frauenkopf war einst in Schaubuden weit verbreitet und muss auf die Betrachter oft großen Eindruck gemacht haben. 

Zwischenzeitliche Versuche, diese Schaustellung wieder zu beleben, konnten allerdings wegen der i.d.R. miserablen, dilettantischen Umsetzungen nicht so recht überzeugen. (Weitere Informationen zu dieser und zu anderen Illusionen finden sich im gleichnamigen Kapitel unter www.schaubuden.de.)


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Mittwoch, 25. August 2010

Daumenkinographie

oder "Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt."

Bildquelle: www.daumenkinographie.de
                                                                                                                  
Die Zeiten, als Guckkastenmänner durch die Lande zogen, um den einfachen Leuten für kleines Geld durch die Linsen ihrer Kästen Einblicke in die Welt jenseits ihres bilderarmen, begrenzten Lebensraumes zu gewähren, sind lange vorbei.
Der Künstler Volker Gerling jedoch reist auch heute zu Fuß durch die Lande, um den Menschen "am Straßenrand und über den Gartenzaun", auf "Dorffesten und Märkten" sowie in Kneipen seine Bilder auf einem Bauchladen mit der Beschriftung "Besuchen Sie meine Wanderausstellung" zu präsentieren. Von dem "symbolischen Austritt", den die "Besucher der Ausstellung" in ein untergeschraubtes Honigglas werfen können, bestreitet er seinen Lebensunterhalt während der langen Wanderschaften durch Deutschland.
Seine Kunstwerke scheinen auf den ersten Blick wenig spektakulär: Volker Gerling fotografiert Gesichter. Er belichtet einen ganzen 36er Kleinbildfilm mit einer Motorkamera - 12 Sekunden, die erstaunlich viel über die so portraitierte Person erzählen, indem Gerling die entwickelten Bilder eines Films als faszinierendes Daumenkino präsentiert.
Auf seiner interessanten Homepage www.daumenkinographie.de ist mehr über das Konzept der "Daumenkinographie" zu erfahren - und auch Termine seiner überaus unterhaltsamen Vorträge.

Die Funktionsweise des Daumenkinos entspricht übrigens der des Mutoskops, ein Guckkasten, durch den schon vor dem Aufkommen des Films durch eine Linse "lebende Bilder" zu sehen waren. Durch das Drehen einer Kurbel wurden auf einer Walze befestigte Serienbilder in Bewegung gesetzt. Auf Höhe der Linse befand sich ein Anschlag, der das jeweilige Bild für einen Augenblick anhielt. In der Abfolge der rasch aufeinander folgenden, kurz angehaltenen Bilder entstand der Eindruck eines ablaufenden Films.
Mutoskope wurden von Schaustellern noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gezeigt - nicht selten mit "pikanten" Inhalten.


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Sonntag, 8. August 2010

Sie laufen und laufen und laufen ...

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Indian-Scout vor der Steilwand von Blume (Foto: Nagel)

Letzte Repräsentanten einer alten faszinierenden Jahrmarktstradition, die tatsächlich noch "Schaustellungen" im eigentlichen Wortsinne beinhaltete, sind die drei hierzulande verbliebenen Steilwände. Das Betreiben einer solchen Show ist ein Knochenjob, womit nicht nur die mehrmals am Tag stattfindenden Paraden und waghalsigen Vorstellungen gemeint sind: Die Geschäfte, Hugo Dabberts "Moto-Drom" stammt aus dem Jahre 1928, bestehen aus vielen, zum Teil sehr schweren Einzelteilen und es bereitet viel Arbeit den Holzkessel, die Aufgänge, das Zuschauerpodium und die Fassade mit dem Paradepodium aufzubauen. 
In den Shows sind nach wie vor alte Indian-Motorräder vom Typ "Scout" zu sehen, die sich bei den Steilwandfahrern wegen ihrer Zuverlässigkeit und des niedrig liegenden Schwerpunkts von jeher größter Beliebtheit erfreuen. Die Maschinen wurden ab 1920 gebaut, die verbesserte "Scout 101" 1928-1932. Motorrad-Enthusiasten werden beim Anblick dieser Motorrad-Legenden allerdings nur bedingt ins Schwärmen geraten: Aufgrund harter Beanspruchungen über viele Jahrzehnte sowie zahlreicher "Modifikationen" im Hinblick auf die besonderen Einsatzbedingungen unterscheiden sich diese Maschinen doch sehr von ihrem Originalzustand...
Nicht viel jünger als die Indian-Motorräder ist das Urgestein unter den Steilwandfahrern: Hugo Dabbert, der mittlerweile weit über 70 ist und Dutzende von Knochenbrüchen erlitten hat, begann 1959 und fährt bis heute.

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Samstag, 8. Mai 2010

"Gott erhalte ihn über die sachlichen Zeiten"


Der wunderbare Text "Die Südsee in Jahrmarkt und Zirkus" in "Das Prinzip Hoffnung" von Ernst Bloch war einer der wesentlichen Anstöße zu näheren Beschäftigung mit dem Budenzauber auf den Jahrmärkten vergangener Zeiten. Ein Zitat hieraus bildet seit der ersten veröffentlichten Version den Anfang von www.schaubuden.de.
Auch in seinem Aufsatz "Mannheim. Aus freundlicher Erinnerung" von 1931 weiß Bloch die einmalige Magie der Jahrmarktsschaustellungen in ihrer ganzen Vielfalt in besonderer Weise zu schildern - wobei er die deutlichen Anzeichen für ihr Verklingen nicht übersah:
"(...) Sechs Budenreihen sind auf dem langen Platz aufgestellt, sie zeigen, wie groß die Welt ist. Hier steht eine Bude als Schiffsrumpf und hat die Schrecken des Orinoko in sich, die Muschel heulen zum Orchestrion und Meerweibchen klirren mit ihren Ketten. Dort sind `Seltene Menschen und ihre Kunst`: ein Cowboy wirft seine Dame vom Kopf bis zu den Füßen mit Messern ein, Hermaphroditen singen, ägyptische Goldweiber leuchten, lebende Aquarien verschlucken Frösche und speien sie zappelnd wieder aus. Am Schluß zappelt die Bühne selber von Menschen, aus denen ein Magier Hypnose gemacht hat; er sagt auch: wie die alten Brahmanen und Ägypter in ihren `Tempeln und Extrahallen`. Afrika und Asien sind vor Anker gefahren, doch ebenso sind wir die Wilden, zu denen Europa kommt. Ein etwas ordinärer Bilderbogen breitet sich da aus, gewiß, doch allein schon seine süddeutsche Fülle unterscheidet ihn vom einfallslosen preußischen Rummelplatz, dem ebendeshalb  früh mechanisierbaren. Statt dessen war der Mannheimer Jahrmarkt noch ein Stück Barock des kleinen Mannes, `Curiöses`versammelnd, samt dem wahrsagenden Bären des Zauberers Salandrini und der nie geheuren Wachsfigur. Noch viel mehr Kolportage gab der Mannheimer Jahrmarkt her, Gott erhalte ihn über die sachlichen Zeiten.
(...)" (Bd. 9 der Gesamtausgabe, Frankfurt/M. 1965, S.405f)


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Freitag, 26. Februar 2010

Auf dem fliegenden Teppich des Außergewöhnlichen zu den Banalitäten der Welt


In vielen der phantastischen Filme Terry Gilliams wimmelt es von skurrilen Gestalten. So auch in "Das Kabinett des Dr. Parnassus" von 2009, wobei dieses Kabinett äußerlich eine Mischung aus barocker Wanderbühne und Schaubude darstellt.
Die Affinität zu den Schaubuden-Freaks lässt sich auch biographisch erklären. Als Heranwachsender half Terry Gilliam einmal in einer Freakshow aus. Seine Erinnerungen daran geben auch einen interessanten Einblick in die eigenwillige Erzählweise dieses großen Filmemachers:
"Es war nur für einen Tag: Ich half beim Zeltaufbau für das Monstrositätenkabinett. Die Zirkuswelt - vor allem die Schaubuden - hatte mich schon immer begeistert, und ich ar fasziniert von den außergewöhnlichen Körpern, die die Natur vor allem in den geheimnisvollsten und ungezähmtesten Teilen der Erde hervorbringt: Gummimenschen aus Borneo, Kongobewohner, halb Mensch, halb Krokodil, Spitzköpfe aus Siam - oder Sealo, der Seehundjunge aus der Arktis. Auf den Plakaten wirkten sie exotisch, sexy und erschreckend, und an jenem Tag blickte ich erstmals hinter die Kulissen. Dort herrschte keinerlei Magie, alles war höchst profan - nach dem Aufstellen des Zeltes konnte ich durchs Lager streifen, bevor die Zuschauer kamen, und die seltsamen Gestalten treffen, die sich als Freaks ihr Geld verdienten. Zwar sahen sie nicht normal aus, aber sie verhielten sich zu meiner Enttäuschung völlig langweilig, spielten Karten, wuschen ihre Wäsche, rauchten, schimpften über das Wetter - genau wie die normalen Leute, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte. Sie waren überhaupt nicht wie die faszinierenden, bizarren, magischen Monster auf den Plakaten. Ich war verwirrt - ich sehnte mich verzweifelt nach Exotik, war aber auch erleichtert, dass Menschsein und Normalität wohl doch die Welt regierten. Seitdem bin ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, auf dem fliegenden Teppich des Außergewöhnlichen aufzusteigen und ihn gleichzeitig zu entmystifizieren und in die banale Welt zurückzuholen."(Terry Gilliam in Python über Python. Die Autobiografie von Monty Python. Dt. Köln 2004, S.60f)

Detail einer alten Postkarte, Sammlung Nagel

Samstag, 21. November 2009

Neu auf schaubuden.de


    Schaubude aus einem Schuhkarton, Heike Sprung 2001
                                           
Aktualisierungen meiner Internet-Monographie können auf

Donnerstag, 5. November 2009

Hauen und stechen


Der Jahrmarkt bot vor allem in früheren Zeiten Jugendlichen eine der wenigen Gelegenheiten, einmal richtig über die Stränge zu schlagen, sich darzustellen und zu beweisen – nicht zuletzt mit Blick auf das andere Geschlecht.
Schießbude, „Hau den Lukas“ und Elektrisiermaschine, die man(n) keinesfalls losließ, wenn der Zeiger noch auf „Halbstarker“ oder gar „Schlappschwanz“ stand, boten u.a. Gelegenheiten zur Selbstdarstellung; die auf vielen Schützenfesten und Kirmessen obligatorischen Prügeleien in aufgeheizter und angetrunkener Stimmung zu vorgerückter Stunde in weit weniger schadloser Form ebenfalls.
Formen körperlicher Auseinandersetzung wurden aber auch von den Schaustellern in vielfältiger Weise institutionalisiert, so zum Beispiel in den Stabuffs, in denen Ring- und Boxkämpfe ausgetragen wurden. Die Kämpfe waren dabei durchaus nicht immer getürkt und viele Jugendliche aus den Vorstädten und umliegenden Dörfern nutzten die Chance, es vor den Augen ihrer „Kumpels“ oder ihrer „Braut“ mit einem Kirmesringer oder –boxer aufzunehmen. Wenn sie letzteren dabei zu sehr provozierten, konnte das sehr unangenehme Folgen für die Herausforderer haben…

Darüber hinaus wurde auf den Jahrmärkten lange Zeit auch gefochten:
Le Parade de Boulevard de Sailnt-Aubin (1760)
Im 17. und 18. Jahrhundert erfreute sich die Fechtkunst im bürgerlichen Milieu der Städte großer Beliebtheit, auch hier wollte man dem Adel nacheifern.
Es kam zu Gründungen von Fechtergesellschaften, Fechthäusern und Fechtschulen. Wandernde Handwerksburschen und fahrende Gaukler führten dieser Mode folgend ebenfalls Schaukämpfe vor, wobei bei den Handwerksburschen oftmals die Bettelei im Vordergrund stand, so dass das Wort „fechten“ in zunehmendem Maße zu einem Synonym für „betteln“ wurde. (1)
In erster Linie gehörten fahrende Fechter zur Gruppe der „Klopffechter“, die selbst unter den „unehrlichen Leuten“ auf einer besonders niedrigen Stufe angesiedelt waren, fast gleichgesetzt mit Räubern. (2)
Obwohl die „Künste“ der Klopffechter, die allein auf die Schauwirkung bzw. einen größtmöglichen Unterhaltungswert abzielten, unter seriösen Fechtern ein denkbar schlechtes Ansehen genossen, hatten sie als Jahrmarktsattraktion einen großen Zuspruch beim einfachen Volk:
„Daher kommt, wann etwan ein neuer marktschreier, gaukler oder spiler angelanget, dass man den mit grossem zulauf zu sehen und zu hören sucht: insbesonderheit lauft die menge zusammen, wann neue zweikämpfer und fechter ankommen, um zu sehen, wie diesselben auf einanderen loss gehen, einanderen parieren, hieb, stich und schläg versetzen.“ (3)
„Besondere Arten der Klopffechter“ waren die sogenannten „Katzenritter“. Sie zeigten riskante Tierhetzen und -gefechte, womit die Aktivitäten der Klopffechter insgesamt an alte römische Gladiatoren- und Tierhetzschauspiele erinnern. (4)
Klopffechter bzw. Katzenritter wurden im 17. und 18. Jahrhundert unterschiedslos zu den übrigen fahrenden Artisten gezählt, eine Gleichsetzung, die insbesondere auch Rückschlüsse über das Ansehen von Gauklern und Komödianten zulässt:
„So sagt z.B. Chr. Gerber in seiner Schrift ’Sünden der Welt’ (…): ’solche sind nun die unseligen gaukler, seiltänzer, taschenspieler, comoedianten, feuerfresser, klopfechter und wie das geschmeiss alles mag genennet werden, (…).’“ (5)
Entsprechend dieser Gleichsetzung der Erscheinungsformen fahrender Artisten richteten sich auch obrigkeitliche Maßnahmen oft unterschiedslos auf mehrere dieser Gruppen:
„(…) bestimmen die bairischen Landrechte von 1533 und von 1616, fol.164, dass ein Kind enterbt werden könne: `so ohne der Eltern Willen sich in leichtfertig Übung und Bubenleben begebe, als ein Freyhartsbueb oder ein Gauckler wurde, oder liesse sich, mit den Thieren zu kämpfen, umb Geld bestellen.` “ (6)
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erlahmte das Interesse am öffentlichen Schaufechten, Tierhetzen blieben hingegen bis zum Ende des Jahrhunderts recht populär. In Wien entstand sogar ein großes überdachtes „Hetztheater“ für mehrere tausend Zuschauer. (7)
Schaukämpfe mit Schwertern erleben mit dem Aufkommen der populären Ritterspiele und „mittelalterlichen Märkte“, die in der Regel ein überaus verzerrtes Bild vom Treiben auf den Jahrmärkten des Mittelalters liefern, seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine große Renaissance.
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(1) Schaer, Alfred: Die altdeutschen Fechter und Spielleute. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Straßburg 1901, S.33 (2) vgl. Danckert, Werner: Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe. Bern 1963, S. 224 (3) Schweizerisches Idiotikon 1688. Bd.1, S.667, zit.n. Schaer 1901, S.51 (4) vgl. Hampe, Theodor: Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1902 (= Monographien zu deutschen Kulturgeschichte, hg. von Georg Steinhaufen.18) S.11f; Schaer 1901, S.41 (5) Schaer 1901, S.66 (6) ebenda S. 44 (7) siehe Hampe 1902, Beilage 2

Gemälde von Gabriel Jacques de Saint-Aubin aus der Londoner Nationalgalerie in: Daheim. 
Ein deutsches Familienblatt. 48. J.g. Nr.11, 16. Dezember 1911, S.21
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Sonntag, 25. Oktober 2009

Mit Pauken und Trompeten


Illustration in einer französischen Zeitschrift aus dem Jahr 1884, Sammlung Nagel

Die Schaubudenbesitzer versuchten mit vielerlei Mitteln die Aufmerksamkeit der Kirmesbesucher auf ihr Geschäft zu lenken um sie letztlich zum Besuch ausgerechnet ihres Etablissements zu bewegen. Das wichtigste Mittel hierbei war die "Schau vor der Schau", die "Parade" auf dem Podium vor der Bude, mit den wortgewaltigen Anpreisungen des Rekommandeurs und Kostproben aus der Vorstellung. Daneben wurden zahlreiche akustische Mittel eingesetzt, die in ihrer Vielzahl und Verschiedenartigkeit für ein höchst interessantes Klangbild in den "Budengassen" gesorgt haben düften...
Bei kleineren Buden besorgten zumeist Familienmitglieder die musikalische Untermalung der Parade, zumindest wurde kräftig "auf die Pauke" gehauen und der Rekommandeur unterstützte seinen Vortrag durch heftiges Läuten seiner Glocke. 
Größere Schaustellungen führten kleine Ensembles mit. Die Musiker kamen vor allem aus Böhmen und der Pfalz - sehr häufig aus der Gegend um das Dorf Mackenbach, so dass bei Schaustellern und Circussen engagierte Musiker im Jargon der Reisenden "Mackenbacher" genannt wurden. Es war aber auch durchaus üblich, Musiker vor Ort für die Dauer des Jahrmarkts zu engagieren. Die Kapellen spielten bei der Parade auf und begleiteten die Vorstellungen von Liliputanershows, Zauberern und Jahrmarktvarietés oder -circussen.
Letztendlich waren die zahlreichen lautstarken Jahrmarktsorgeln, die ganze Orchester imitieren konnten, eine Möglichkeit das Publikum anzulocken. Diese Orgeln bildeten mit ihrem überbordenden Jahrmarktsbarock und den beweglichen Figuren zudem einen ansprechenden Blickfang und wurden deshalb stets an exponierter Stelle im Fassadenbereich aufgestellt. Besonders Kinematographen und Panoptiken verfügten häufig über besonders eindrucksvolle Orgeln. Als Zentrum des Orgelbaus erlangte Waldkirch im Breisgau große Bekanntheit. Viele der dort vor allem von den Firmen Ruth und Bruder produzierten Jahrmarktsorgeln sind seit Generationen im Besitz alter Schaustellerfamilien und bilden nostalgische Schmuckstücke im hektischen Treiben auf dem Rummel unserer Tage.
Daneben präsentieren einige Sammler und Museen die alten Schätzchen im tadellosen und oftmals funktionstüchtigen Zustand. Die nachfolgend abgebildete Ruth-Orgel aus dem Besitz von Ruud Vader ist das Exemplar, welches auf dem Foto einer Liliputanerbude vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu sehen ist. Sie wurde 1907 ausgeliefert und beschallte später eine Krinoline sowie ein kleines Riesenrad, eine sog. "Russische Schaukel".










(Die Informationen zur Geschichte der Orgel sowie das Farbfoto stammen von Ruud Vader, die alte Abbildung ist aus meiner Sammlung.)








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Sonntag, 20. September 2009

Walburga








Die Nummer 5 meiner Sideshow-Banner ist eine "Riesen- oder Kolossaldame" mit dem passenden Namen "Walburga". Nähere Informationen zur Schaustellung besonders übergewichtiger Menschen finden sich im Kapitel "Abnormitäten" bei www.schaubuden.de.

Inspirationen suchte ich diesmal naheliegenderweise bei Rubens und Botero - und entschied mich schließlich für Botero, genauer sein Bild "woman drinkung with cat". Viel verändern musste ich diesmal nicht.


Samstag, 29. August 2009

Allerlei Mittel für glänzendes Falschgeld, geschmeidige Fürze und den verderbten Magen


Es ist gut möglich, dass auch dieser Zauberer am Schluss der Vorstellung den Dorfbewohnern
 ein Mittel gegen diverse Unpässlichkeiten offerierte. (Holzstich, Sammlung Nagel)

Der zu Lebzeiten sehr berühmte Zauberer Alexander Heimbürger aus dem vorherigen Eintrag verkaufte nach der Rückkehr von seiner viele Jahre währenden Amerika-Tournee in seiner Heimatstadt Münster ein Wund- und Abführmittel, das noch Jahrzehnte nach seinem Tod vermarktet wurde.
Der Verkauf von Heilmitteln oder sogar die Ausübung heilpraktischer Behandlungen durch Zauberer bzw. Taschenspieler bildete zu dieser Zeit zwar nur noch eine Ausnahme, kam bis ins 19. Jahrhundert hinein jedoch nicht selten vor. Friedrich Josef Basch, der u.a. "das Aufziehen eines Kindes bei einem Haare" vorführte, bot seinem Publikum sinnigerweise ein Haarkräftigungsmittel an. Auch andere fahrende Artisten waren hier tätig. So wird von den Vorfahren der auch heute noch als Seilläufer bekannten Traber-Sippe Folgendes berichtet: „Ein Louis Traber, (…), weilte 1808 mit einer Truppe von 12 Personen, 2 Wagen und 5 Pferden in Kettwig an der Mosel. Nachdem sie mit Seiltanzen das Volk amüsiert hatten, priesen sie die Wirkung ihrer Heilmittel und ihre medizinischen Kenntnisse. Sie besäßen das Geheimnis, leicht alle Krankheiten zu heilen. Ihre Medizin verkauften sie zu enormen Preisen und suchten dann das Weite. Wenig später wurde aus Rhens berichtet, ihre Frauen hausierten in Dörfern mit einem Mittel, das nicht nur geeignet sei, gewisse Krankheiten zu heilen, sondern auch Falschgeld einen neuen Schimmer gebe. (…) Alois Taber (…) heiratete die ‚umherziehende Marionettenspielerin’ Franziska Witthauer, deren Eltern ein ‚Chirurgus’ und eine Marionettenspielerin waren.“ (1)
Das Beispiel steht in einer langen Tradition der Verbindung von Gaukelei bzw. Schaustellerei und Quacksalberei, die im 17. und 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt hatte und bis ins Mittelalter zurückreichte.
Schon der mittelalterliche Spielmann war neben seinen hauptsächlichen Betätigungsfeldern Artistik und Musikantentum oft auch ein Heilkünstler bzw. „Heilzauberer“. Auf die sehr wahrscheinlichen Verbindungen zum Schamanismus weisen u.a. die bis heute erhaltenen Spuren des Musikantenmagiers und Heilkünstlers in Südosteuropa hin:
„Durch die Szekler in Siebenbürgen sind in Ungarn sehr alte Bräuche einer religiösen Spielmannschaft erhalten geblieben. Die Spielleute waren Schamanen, die der Heilkunst, der Zauberei und der Musik zugleich kundig waren. Die kultische Handlung wurde durch Tanz, Gesang und turnerische Kunststücke vorbereitet, zu denen die Trommel geschlagen und ein Zauberspruch rezitiert wurde, (…)“ (2)
Auch die Gaukler der Neuzeit traten häufig als Heilkundige in Erscheinung. (3) „Der eine hat Wurmsamen/ der ander Bilsensamen für das Zahnwehe/ der ander Pulffer/ welches die Harnwinde vertreibet/ oder einen Furtz geschmeidig macht/ dass man ihn nicht höret/ damit mannichem wol bei guter Gesellschaft gedienet wird…“ (4)
Besondere Beachtung verdient Manfredi von Malta, der als Hochseilläufer und Akrobat, der einen Stein von angeblich 700 Pfund mit den Locken seiner Haare hob, auftrat. Vor allem aber „trank er große Mengen Wasser und spie sie in wechselnden Fontänen aus. Er scheint sogar die Flüssigkeiten abgewechselt zu haben, die aus seinem Munde kamen: einmal war es Wein, dann Bier, Öl, Milch und verschiedene Duftwässer.“ (5) Seinem Publikum konnte er hierbei gleich die Wirkung seines „vortrefflichen Balsams für den verderbten Magen“ demonstrieren, das auf einem erhaltenen Ankündigungszettel aus dem 17. Jahrhundert neben seinen artistischen Künsten angepriesen wird (6).
Neben solchen Gauklern, die „nebenbei“ Heilmittel verkauften oder kleinere Behandlungen durchführten, gab es reisende Quacksalber, deren hauptsächliche Profession die Heilkunst war. Die lautstarken Anpreisungen ihrer Mittel und Dienstleistungen reichten bei zunehmendem Konkurrenzdruck auf den Messen und Märkten bald nicht mehr aus, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. Viele engagierten daher Akrobaten und Possenreißer und ließen Tiere sehen. (7)
Welche Ausmaße der Pomp fahrender Ärzte erreichen konnte, zeigt eine Memminger Chronik aus dem Jahre 1724: „Am 2. Juli kam ein berühmter Arzt an, namens Joh. Ehr. Hüber, mit fünf Kutschen, darunter zwei sehr prächtig, hatte bei sich 50 Personen, darunter Frauen und Kinder, eine Zwergin, zwei Heiducken, zwei Trompeter und verschiedene Musikanten, (…), auch 18 Pferde und zwei Kamele. Er hatte sein Theatrum auf dem Ratzengraben, verkaufte seine Ware, spielte vor und nach Komödien, (…), hatte höfliche Leute und proper in Kleidern.“ (8) Bei einem späteren Gastspiel war seine Truppe sogar um 30 Musikanten, einen „Mohr“, einen Seiltänzer, sechs „Laquaien“ und „verschiedene Frauenzimmer und Personen“ verstärkt. (9) Auch der berühmte Doktor Eisenbarth verfügte über eine Artistentruppe von 120 Mitgliedern, „die Faxen machte, während er öffentlich Klistiere verpasste“. (10)
Während für das Mittelalter die Bedeutung fahrender Heilkünstler und heilkundiger Spielleute durchaus hoch einzuschätzen ist, verbreiteten die Mittel der Wunderheiler und Scharlatane der Neuzeit oftmals wohl mehr Schaden als Nutzen. Im besten Falle dürfte ihr „Elefanten- und Elchschmalz“ oder ihr „berühmter Planetenstein“ ohne jede Wirkung geblieben sein. Dies war jedoch nicht immer der Fall: „’Also haben’, sagt Dryander in der Vorrede zu seinem Arzneibuch 1542, ‚solche Landstreicher und Leutebescheißer zu allen Gebrechen eine Arznei, einen Trank, eine Salbe, ein Pflaster, oder etwas so Ungereimtes, dass mancher sich das Leben darob verzettet.“ (11)
Zunehmende Kritik fand außerdem das artistische Beiprogramm der Quacksalber. Schon im 15. und 16. Jahrhundert „wimmeln“ die Nürnberger Ratsprotokolle von Erlassen, „in denen ’Landfahrern’ oder ‚Himmelreichern’ verboten wird, ihr `Petroleom’, `Quirinusöl’, `Rosmarinbalsam’, `Skorpionöl’ oder `Elefantenschmalz’ usw. in Nürnberg feil zu halten.“ (12) In Regensburg durften sie zwar zu Jahrmarktszeit bzw. Kirchweih auftreten, sie mussten ihre Arzneien aber vorher durch niedergelassene Ärzte prüfen lassen. (13) Ähnlich verfuhr man in Zürich, wo Ärzte und Chirurgen eine Untersuchungsbehörde“, die sogenannte „Geschau“, bildeten. Umherziehende Ärzte durften dabei in den meisten Städten auch nur bestimmte Krankheiten behandeln, damit sie den niedergelassenen Ärzten möglichst wenig Konkurrenz machten. Außerdem verbot man immer wieder die aus Reklamegründen unentbehrlichen artistischen Darbietungen. (14) Auch in Hamburg untersagte man 1686 „den Zahnbrechern, Marktschreiern und Quacksalbern, sich auf ihren Theatern von Gauklern und Narren assistiren zu lassen“. (15)


Abbildung in einer französischen Zeitschrift der 2. Hälfte des 19. Jh., Slg. Nagel

Doch all diese Maßnahmen gegen fahrende Quacksalber richteten wenig aus. Ihre Geschichte, die eng mit der Geschichte der anderen fahrenden Gruppen verknüpft ist, reicht weit bis ins 19. Jahrhundert hinein – wenn auch die Fähigkeiten schwanden, die man ihnen bei wachsendem Fortschritt der Medizin und sinkendem Aberglauben in der Bevölkerung zutraute. Die anfangs erwähnten Mittel der Traber-Truppe dürften vornehmlich in ländlichen Gebieten Anklang gefunden haben und die „Chirurgen“ und „Operateure“ auf den Jahrmärkten, die im 18. Jahrhundert noch Eingeweidebrüche behandelten und als Stein- und Starstecher agierten, beschränkten sich auf das Zähneziehen sowie kleinere Eingriffe bei Hühneraugen, „verhärteten Frostbeulen“ oder eingewachsenen Nägeln.
Wie viel umfassender waren da die Behandlungsbereiche ihrer Kollegen früherer Zeiten, die kaum zugegeben hätten, gegen eine Krankheit kein Mittel oder eine „schmerzfreie“ Behandlungsmethode zu haben (16), wie auch nachfolgende Parodie aus einem Fastnachtsspiel durchklingen lässt. Das Lied weist sicherlich nicht zufällig Ähnlichkeiten zum bekannten Spotttlied auf Dr. Eisenbarth auf, das allerdings erst um 1800 entstanden ist.
„Hört ihr Herren all gleich!
Es kommt ein Meister künstenreich.
Er nennt sich Meister Vivian,
Der sieben Künst er wohl echt (…) kann.
Er kann mit meisterlichen Sachen
Die Blinden reden machen.“ (17)

"Leichtgläubigkeit" (Moritz Bauernfeind),  Jugend 1913 Nr.11

Während man fahrenden Unterhaltungskünstlern keinerlei heilkundige Kompetenzen mehr zutrauen würde, finden heutige Quacksalber ihr Publikum auf anderen Wegen: Sie nutzen Boulevardblätter und moderne Medien wie Internet und Privatfernsehen, um ihre Wundermittel unter Vortäuschung vermeintlich wissenschaftlicher Erkenntnisse anzupreisen, nicht selten mit esoterischem Einschlag. Die Werbestrategien, die sie hierbei nutzen, sind dabei im Grunde die ihrer Vorgänger auf den Jahrmärkten vergangener Tage.
Auch die Zielgruppe hat sich nicht verändert: "... die vielen, die Disponierten, die Trunkenen der Illusion, die verlangen, wenn die Erde das Glück verweigert hat, von einem andern Stern das Glück; wenn die Welt keinen Erfolg gewährte, so suchen sie den Erfolg in einer Geisterwelt; wenn bittere Gegebenheiten zu Existenzgesetzen werden, so rufen sie nach dem, vor dessen Zauberstab Gesetze weichen. Die Halbgebildeten sind des Charlatans Gefolgschaft, die Schwachen und Leidbeladenen seine Beute." (18)

Werbung für das "Nerven-Nährpräparat Nervosin", frühe 20er Jahre

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(1) Arnold, H.: Randgruppen des Zigeunervolks. Neustadt/Wstr.1975, S.157f, (2) Danckert, W.: Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe. Bern 1963, S.250f, (3) vgl. ebenda S.218, (4) Garzoni, Thomaso: Piazza Universale: Allgemeiner Schauplatz/ Marckt und Zusammenkunfft/ aller Professionen/ Künsten/ Geschäfften/ Händeln und Handwercken. Frankfurt 1659. Nachdruck Nürnberg 1962, (5) Jay, R.: Sauschlau und Feuerfest. Menschen, Tiere, Sensationen des Showbusiness. Offenbach 1988, S.316, (6) vgl. Hampe, Th.: Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1902, S.118, (7) vgl. Stichler Carl: Reisende Ärzte, Wunderdoktoren und Medizinhändler des 17. Jahrhunderts. In: K. Sudhoff (Hg.): Archiv für Geschichte der Medizin. 2. Bd. Leipzig 1908, S.285ff, (8) zit.n. Hampe 1902, S.108, (9) vgl. ebenda, (10) Bose, G./ Brinkmann, E.: Circus. Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst. Berlin 1978, S.24, (11) Hampe 1902, S.107, (12) ebenda, S.106, (13) vgl. Schöppler, Hermann: Eine Medizinalordnung der Freien Reichsstadt Regensburg. In Sudhoff 1908, S.127, (14) vgl. Stichler 1908, S.286ff, (15) Beneke, O.: Von unehrlichen Leuten. Cultur-historische Studien und Geschichten aus vergangenen Tagen deutscher Gewerbe und Dienste mit besonderer Rücksicht auf Hamburg. 2. Aufl. Berlin 1889, S.58, (16) vgl. Kopecny, A.: Fahrende und Vagabunden. Ihre Geschichte, Überlebenskünste, Zeichen und Straßen. Berlin 1980, S.56, (17) zit.n. Hampe 1902, S.107, (18) Grete de Francesco: Die Macht des Charlatans. Basel 1937, S.32f


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