Samstag, 4. März 2017

Buden und Farben


Otto Marquardsen: Sonntag auf dem Rummelplatz , "Die Woche" vom 21.9.1929 (Sammlung Nagel)

Es sind nicht zuletzt literarische Texte, die uns den vergangenen (Buden-)Zauber der Jahrmärkte vor Augen führen - wobei der Jahrmarkt oftmals als (vermeintliche) Gegenwelt zu einer rationalen, alles Wunderbaren beraubten Alltagswirklichkeit herausgestellt wird.
Der folgenden, offenkundig von romantischen Gedankenwelten des 19. Jahrhunderts geprägten Auslassungen eines "E. Meyer" in einer Ausgabe der Zeitschrift "Die Woche" aus dem Jahr 1929 sind sicherlich von beschränkter literarischer Qualität und treiben im Bemühen um Originalität einige recht amüsante (Stil-)Blüten, Interessent sind sie jedoch in der "Vorwegnahme" einiger Ansätze, die Ernst Bloch später in "Das Prinzip Hoffnung" unter "Die Südsee in Jahrmarkt und Zirkus" formulierte:

"Glocken, schrille Pfiffe, Rädergeratter, Fettgeruch aus Waffel- und Pufferzelten, turbangeschmückte, gebräunte Fakire und Schlangenbeschwörer, oft aus den unmöglichsten Gegenden eindringlichste Anpreisung unerhörter, noch nie dagewesener Genüsse, buntbemalte Krafthämmer und muskelprotzende Athleten, wahrsagende Papageien, Tierschau vom Floh bis zum Elefanten, Ballons, die unter Kindertränen auf und davon fliegen, alles quirlt kaleidoskopisch hier durcheinander. Dieser Augen-, Ohren- und Geruchsschmaus betäubt die Sinne des Vorstadtbewohners, der aus dem rastlosen Werkgetriebe der Fabrik in die Paradiese strömt. Erwachsene finden hier nach der errechenbaren Mechanik unserer Zeit wieder den ersehnten Zugang zum verwunschenen Zauber der Kindheit. Über alle Blasiertheit und allen Lebensernst des geprüften Volkes hinweg lernen sie hier wieder das Gruseln und Staunen des Märchens, das sonst in aller Aufgeklärtheit des regierenden Verstandes ja so gar keinen Platz mehr im heutigen Lebenstempo hat. Selbst hier in dieser traumhaft bunten, unwirklich-wirklichen Welt der Buden freuen sich die Werktätigen unseres exakten Maschinenzeitalters auf lächerlich unmögliche, allen Naturgesetzen Hohn sprechende Überraschungen zu stoßen, bei denen das so ernst Mechanische sich endlich wieder einmal befreit und sich in ein lustiges, buntverschnörkeltes Gewand verkleidet. Der Dämon der Maschinerie, der sonst im Getöse des Arbeitslärms den Menschen verschluckt, verwandelt und verzaubert sich hier plötzlich in eine Versprechen gebende Märchenfee oder in luftige, polternde Geister. Alle Aufgeklärtheit geht dahin und wird gern einmal beiseite geschoben, wenn der sich heiser schreiende Ausrufer vor der Rampe des Zeltes den skeptisch lächelnden Zuhörer aus der Menge von der Notwendigkeit der Besichtigung der "Weltwunderschau" für zwanzig Pfennig überzeugt hat.
Es ist die so natürliche Sehnsucht nach Naivität und Kindlichkeit, die hier gestillt wird, die einmal vom kritisch verwickelten Betrachten erlöst und ähnlich befreiend wirkt wie der Rausch, der Tanz und das Spiel!" (E. Meyer: Buden und Farben. In: "Die Woche" vom 21.9.1929, S.1075f)