Mittwoch, 20. September 2023

Hüa!




Um die vorletzte Jahrhundertwende gehörten "Hippodrome" zum Erscheinungsbild der Jahrmärkte. Hier bot sich den, dem Anlass entsprechend oft im Sonntagsstaat gekleideten Volksfestbesucherinnen und -besuchern die Gelegenheit, sich einmal ganz im Stil der "feinen Herrschaften" hoch zu Ross fortzubewegen. 
Die Fassaden der Geschäfte waren entsprechend "vornehm", d.h. prunkvoll gestaltet und mit Reitszenen aus der hochherrschaftlichen Welt bemalt.


Natürlich boten die unerfahrenen, noch dazu um einen angemessenen Habitus bemühten Reiterinnen und Reiter Anlass zur Belustigung des umstehenden Publikums und das Hippodrom wurde zu einem beliebten Sujet humoristischer Bildpostkarten.



In den späten 20er Jahren kamen die "Autoselbstfahrer" auf und erfüllten den gleichen Zweck. Autos waren lange Zeit nur für die Reichen erschwinglich, im Autoscooter konnte jedermann für einige Runden mit der Braut im Arm in betont lässiger Art erfahrener Vielfahrer einige Runden drehen. 


Autoscooter erfreuen sich bis die Gegenwart bei Teenagern aus ganz ähnlichen Gründen großer Beliebtheit und zählen zur Standard-Beschickung jeder Kirmes. 
Das Hippodrom lebte bis vor einigen Jahren als Ponyreitbahn für Kinder fort.    

Abbildungen Sammlung Nagel

Sonntag, 1. Januar 2023

lost museum IV - Markt- und Schaustellermuseum Essen

 
Mitten in Essen, unweit des Hauptbahnhofs, befand sich in einem ehemaligen Fabrikgebäude das aus der Sammlung des 2011 verstorbenen Schaustellers Erich Knocke hervorgegangene Schaustellermuseum*. Nun ist auch dieser Erinnerungsort einer untergegangenen Unterhaltungskultur Geschichte. Vielleicht wird das ein oder andere Exponat an anderer Stelle zu bestaunen sein, aber einmal mehr ging eine besondere Stätte purer Schau-Lust verloren.   
In diesem herrlich unstrukturierten, vollgestopften, unübersichtlichen Sammelsurium unterschiedlichster Exponate stießen Besucherinnen und Besucher ständig auf unerwartet Skurriles, Wertvolles, Banales, Rares, Kitschiges, Beeindruckendes - da wurde jeder Besuch zu einer Entdeckungsreise in vergangene (Traum-)Welten.
Zwischenzeitlich war im Gespräch, die Sammlung in der ehemaligen Kokerei Zollverein unterzubringen. Die Gebäude mit ihrer unvergleichlichen Atmosphäre, in denen vor nun schon fast einem Vierteljahrhundert die fantastische Ausstellung "Sonne, Mond und Sterne" gezeigt wurde, wären der ideale Ort für eine stimmungsvolle Präsentation vergangenen Kirmeszaubers gewesen ...


* dazu eine Buchempfehlung: Erich Knocke (Hg.): Gesammeltes Vergnügen. Das Essener Markt- und Schaustellermuseum. Essen, Klartext 2000 - mit sehr lesenswerten Beiträgen von Michael Zimmermann, Angelina Wuszow, Florian Dering, Zeev Gourarier, Lisa Kosok und Kasper Maase 

Samstag, 16. Juli 2022

lost museum III - Stadtmuseum München


... Abflug - und tschüss!

Die seit 1984 bestehende Dauerausstellung "Puppentheater und Schaustellerei" im Münchner Stadtmuseum zählte für mich zum Pflichtprogramm jedes München-Besuchs und immer wieder nahmen mich Exponate wie das Theatrum mundi, Schichtls großer Seilschwenker, die herrlichen Plakate und andere Bildzeugnisse, ausdrucksstarke Figuren, das Panoptikum samt "Anatomischer Venus", die wunderbar in Szene gesetzten Zeugnisse aus der Welt (nicht nur) reisender Puppenspieler oder Tschuggmalls Figurenautomaten gefangen.

Im Sommer 2022 wird die Ausstellung geschlossen, das Stadtmuseum ab 2024 komplett umgebaut und erst in der folgenden Dekade wieder eröffnet. Ob Puppentheater und Schaustellerei wieder einen festen Platz erhalten, bleibt abzuwarten; der einzigartige Charme der Ausstellung aber ist unwiederbringlich verloren.

https://www.youtube.com/watch?v=iO9rkrd2KPM
https://www.youtube.com/watch?v=RO4HywQDqGI


Freitag, 15. Juli 2022

"Der Schlüssel zum Leben

 
500 Jahre mechanische Figurenautomaten“

… lautet der Titel einer sehr ansprechend gestalteten Ausstellung im Dresdner Lipsiusbau.

Die Ausstellung zeigt viele Exponate zum Thema vorwiegend aus verschiedenen Museen der sächsischen Metropole, wobei fantastische feinmechanische Arbeiten für hochadelige Auftraggeber aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die bewundernswerten mechanischen Theater des Landwirts Elias Augst aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie einige zeitgenössische künstlerische Exponate die Schwerpunkte bilden.
Es mag sein, dass „die Museen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden einen Schatz mechanischer Objekte vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart bewahren, wie ihn kein anderer Museumsverbund aus dem eigenen Bestand zeigen kann“, ein vollständiger Einblick in das interessante und vielschichtige Thema „500 Jahre Mechanische Figurenautomaten“ wird jedoch nicht gegeben. Der Titel der Ausstellung hätte fraglos enger gefasst werden müssen; allzu viele wichtige Aspekte bleiben leider weitgehend außen vor.
Automaten bzw. mechanische Figurentheater reisender Schausteller bzw. Puppenspieler werden beispielsweise fast vollständig auf das „Theatrum mundi“ reduziert.
Mechanische Figurenautomaten waren auf den Jahrmärkten aber in weit größerer Vielfalt zugegen, worauf im Katalog indirekt ein nicht weiter kommentierter Schaustellerzettel auf S.138 hinweist.
Gerade mechanische Theater oder „Automatenkabinette“ mit bisweilen lebensgroßen vollplastischen Figuren oder auch bewegliche Wachsfiguren vor und in den Panoptiken waren von besonderer Wirkung auf das damalige Publikum, wie wir aus literarischen Texten wissen. Der kurze Hinweis auf "Mechanische Theater" mit „Pseudo-Automaten" - die im übrigen nicht erst "in den 1840er Jahren in Deutschland auftauchten" - und die Fußnote auf Katalogseite 139 werden der Bedeutung der verschiedenen Erscheinungsweisen mechanischer Figuren auf den Jahrmärkten nicht gerecht.

Theatrum mundi-Figur - Abbildung aus dem Werbeflyer zur Ausstellung

Freitag, 3. Juni 2022

Und wenn sie nicht gestorben sind, ...



In den verbliebenen Märchenwäldern vermitteln kleine "Schau-Buden" - Grotten, Burgen, Schlösser und vor allem Häuschen verschiedener Märchenfiguren samt entsprechender Einrichtung - auf anachronistische Weise und mit einfachsten Mitteln den Kleinsten Freude und ihren (Groß-) Eltern schöne Erinnerungen.
Per Knopfdruck, bisweilen auch durch Einwurf einer Münze, wird den Szenerien Leben eingehaucht. Zumeist führen die Figuren einige grobe Bewegungen aus, während das entsprechende Märchen aus dem Lautsprecher ertönt. Eingebettet in eine idyllische Umgebung, durch die die Rufe von Pfauen hallen, verströmen einige der älteren Parks eine Atmosphäre, der sich auch viele Erwachsene nicht entziehen können. 


Die einzelnen Märchenszenerien weisen dabei trotz ihrer Simplizität eine entfernte Verwandtschaft zu Wachsfigurenkabinetten, die oftmals Märchen-Szenerien mit beweglichen Figuren enthielten, Pano- bzw. Dioramen und nicht zuletzt mechanischen Theatern auf. Jeder Märchenpark, der etwas auf sich hält, beinhaltet außerdem zumindest ein aufwändigeres Schaustück mit mehreren animierten Akteuren wie beispielsweise eine (Affen-)Kapelle, ein Zwergen-Bergwerk oder einen orientalischen Markt - Highlights, die oft einem Jahrmarkts-Automatentheater früherer Zeiten würdig gewesen wären.



Erste Märchenwälder entstanden bereits vor dem ersten Weltkrieg, andere haben ihre  Anfänge in den 1920er und 30er Jahren. Die weitaus meisten dieser Parks eröffneten jedoch zur Blütezeit des Märchenwaldes in 1950ern und 60ern. 
Diese Blüte währte allerdings nur kurz, bald schon sanken die Besucherzahlen. Viele Parks mussten schließen, andere erweiterten ihr Angebot und entwickelten sich zu mehr oder weniger großen Freizeitparks.*


Um die Jahrtausendwende wurde dieser Niedergang vielerorts gestoppt, in den neuen Bundesländern entstanden sogar neue Märchenwälder als Orte der kindlich-naiven Schaulust und der Illusion einer idyllischen heilen Welt. Es scheint naheliegend, dass sich in diesem Auf und Ab gewisse Zeitströmungen und gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln. 
  


Die Abbildungen stammen von Souvenir-Ansichtskarten aus den 60er und 70er Jahren, weit stimmungsvollere Bilder gibt es hier zu sehen: 
- https://norbert-enker.de/wp-content/uploads/2021/01/norbert_enker_Der_deutsche_Maerchenwald.pdf
- https://www.spiegel.de/geschichte/verwaister-freizeitpark-a-949469.html


* Das von einem Puppenspieler und einem Schausteller gegründete "Phantasialand" bei Brühl beispielsweise ging aus einem Märchenwald hervor. Die bis zum Beginn der 2000er Jahre im Park verbliebenen Märchenhütten sowie weitere animierte Figuren bzw. Szenerien, wie sie beispielsweise in der legendären Gondelbahn zu sehen waren, machten lange Zeit den besonderen Charme des Phantasialandes aus.   
Einen ganz anderen Weg beschreitet man im niederländischen Park "De Efteling", dessen Ausgestaltung konsequent auf den Ideen Anton Pieks aufbaut, der den ursprünglichen, noch bestehenden wunderschönen Märchenwald entworfen hatte:  https://www.youtube.com/watch?v=_sVSrCjglXY

Donnerstag, 15. April 2021

Ein Begriff verschwindet

 
Den Titel dieses vorletzten Programms aus dem Jahr 1948 gestaltete Dorul van der Heide,
der erste Zeichner der Fix und Foxi-Comics. (Sammlung Nagel)

Mit dem weitgehenden Verschwinden der einstmals auf jedem größeren Jahrmarkt anzutreffenden Schaubuden scheint auch diese sprachliche Bezeichnung aus unserem Wortschatz zu verschwinden  -  auf jeden Fall aber verliert sich ihr eigentlicher Bedeutungsinhalt.
Bis vor einigen Jahren werden viele Fernsehzuschauer die Schaubude zuvörderst mit einer populären Unterhaltungssendung des NDR in Verbindung gebracht haben. 
Literatur-Interessierte denken wahrscheinlich zunächst einmal an das legendäre Münchner Nachkriegskabarett "Die Schaubude", für das u.a. Erich Kästner und Axel von Ambesser die Texte schrieben.  

Gegenwärtig ist die "Schaubude" nur noch vereinzelt in unserem Alltag und damit in der Sprache präsent. In Berlin gibt es das Figurentheater "Schaubude", in Kiel eine Event-Location gleichen Namens und in Dresden das Open-Air Kleinkunst-Festival "Schaubudensommer". Die letzten Schaubuden im eigentlichen Sinne sind in verschwindend geringer Zahl zumeist auf "Historischen Jahrmärkten" anzutreffen. 
 

Freitag, 6. März 2020

Ein Medium wurde besichtigt


Castans Panopticum war eine Berliner Institution, 

Nach 12 Jahren erschien dieser Tage das letzte von 35 Heften der sehr empfehlenswerten Reihe "Castan's Panopticum. Ein Medium wird besichtigt" von Angelika Friederici.
Anhand einer unglaublichen Fülle akribisch zusammengetragenen, sorgsam strukturierten Materials ermöglicht die Reihe einen vielschichtigen Blick auf das einst so populäre Unternehmen und stellt in ihrer Gesamtheit eine umfassende Monografie dieser Berliner Institution der Kaiserzeit dar.
Ich empfehle daher gleich das gesamte Werk und zu kaufen und es binden zu lassen, aber auch die einzelnen Hefte sind weiterhin lieferbar. Über deren Inhalte, Preise und Bestellformalitäten informiert die Homepage: http://www.castans-panopticum.de/

... mit Dependancen u.a. in Köln 

... oder Frankfurt am Main. (Kataloge Sammlung Nagel)

Samstag, 21. Dezember 2019

"... klick, klick"


Schaubude, Mitte 20. Jh. (Sammlung Nagel)

Im 18. Jahrhundert schufen Uhrmacher mit Automaten, die menschliche Bewegungen imitierten, mechanische Meisterwerke, die Adel und Großbürgertum in Erstaunen versetzten.
Schausteller erkannten rasch das Potential solcher Androiden, und es dauerte nicht lange, bis einfachere, aber dennoch beeindruckende Automaten geschickter Mechanikusse in Gasthöfen und Schaubuden dem gemeinen Volk für kleines Geld präsentiert wurden. (siehe www.schaubuden.de, S.69ff) Auch Wachsfigurenkabinette beinhalteten oftmals Figuren, bei denen durch Münzeinwurf eine Mechanik in Gang gesetzt werden konnte, die ihnen "Leben einhauchte".
All diese Androiden faszinierten nicht zuletzt auch durch ihre in vielerlei Hinsicht verblüffende menschliche Anmutung - bis im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts ein ganz neuer Typ "Maschinenmensch" die Bühne betrat, der nicht mehr auf subtile Weise, sondern sehr direkt gleichermaßen Bewunderung und auch Unbehagen auslöste.
Diese Wesen, für die sich nach und nach der Begriff "Roboter" einbürgerte, zeigten nur noch in beängstigend verfremdeten Zügen Menschenähnlichkeit und auch ihre groben, einfachen und unbeholfen wirkenden Bewegungen betonten das Maschinenhafte und Künstliche. Auslöser für diese "Robot-Mania" war u.a. eine vordergründig naive, im Kern aber auch schon mit Ängsten und Zweifeln behaftete  Fortschrittsgläubigkeit im Zusammenhang mit umwälzenden technischen Entwicklungen. Die Popularkultur, insbesondere die Trivial- bzw. aufkommende Sciene-Fiction-Literatur sowie der Film, trug entscheidend zur Verbreitung des Maschinenmensch-Themas bei, und bald schon wurden solche Gestalten wahrhaftig zur Schau gestellt:
Einer der ersten war der 1910 von einem Herrn Whitmann präsentierte "Radiomensch Occultus" bzw. "Barbarossa", der angeblich sprechen, sitzen und laufen konnte. Die seinerzeit in vielen Zeitschriften veröffentlichte Fotografie lässt allerdings an der Funktionalität der offensichtlich allein auf ihren Schauwert ausgerichteten komplizierten Mechanik deutliche Zweifel aufkommen.
"Occultus" - Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1912, Bd.8

Spätere Nachfolger von "Occultus" waren demgegenüber i.d.R. tatsächliche "Maschinen-Wesen", deren Funktionen allerdings in zunehmendem Maße nicht mehr von Uhrwerken, sondern von Elektromotoren angetrieben wurden:

Schaubude, um 1950 
Televox, der Vorgänger von "Mekko", war in den 1930er Jahren u.a. im Circus Knie zu sehen.  

Mekko und sein Erbauer, der Schweizer Ingeneur Eugen Wendling

Auch August Huber, der Erbauer von "Sabor", war Schweizer.
Plakat aus der ersten Hälfte der 1950er Jahre, Sammlung Nagel

Dienstag, 11. Juni 2019

Naiver Expressionist


Walter Trier: Szene aus Ganzauges "Kasper in der Türkei" (Tafel 9)

Walter Triers große Leidenschaft für die Welt des Circus, des Varietés, des Jahrmarkts, des "Fahrenden Volks" überhaupt, umfasste auch das Puppentheater. Das Lieblingsstück seiner großen Spielzeug- und Figurensammlung war eine Kasper-Handpuppe und zweifelsfrei identifizierte sich der bekannte Illustrator ein Stück weit mit dem vorlauten, sich dem Bösen entgegenstellenden und gute Laune verbreitenden Kasper. 

Wie zu Clowns und anderen Artisten pflegte Trier auch Kontakte zu Puppenspielelern, insbesondere zu Arthur Ganzauge in Dresden, dem Trier und  Oskar Seyffert in ihrem Buch "Spielzeug" von 1922 in ganz besonderer Weise würdigten:
"Der Puppenspieler Arthur Ganzauge in Dresden ist ein ganzer Kerl. Er stellt sein Kaspertheater selber her und macht auch seine Schauspieler selber. Und seine Frau steckt sie dann in bunter Kleider. Ein berühmter Maler, der das alles sich genau angesehen hat, behauptete, Ganzauge sei ein Expressionist. Da wusste Herr Ganzauge nicht, was er dazu sagen sollte." (zu Tafel 9)

"Das muß man immer wieder sagen, der Puppenspieler Ganzauge kann wirklich
Kaspertheaterfiguren schnitzen. Wenn der Tod - er hat ein weißes Hemd an,
aber kein allzuweißes, da er doch aus der schmutzigen Erde emporsteigt - auftritt,
so fürchten sich die Kinder. Sie fürchten sich auch vor dem Räuber, der sie so
  gräßlich mit einem Auge anblickt. Wenn dann aber der Kasper kommt, da lachen
sie und jubeln und sind glücklich. Denn der mutige Kerl schlägt die beiden so
 lange tot, bis sie mausetot sind."
(Tafel 10)

Donnerstag, 28. Februar 2019

Teufelspack


Alois Greil "Wandernde Komödianten" (Kunstpostkarte)


"Die Geschäfte gingen sehr schlecht; wir erhielten oft kaum 10 Kreuzer auf den 'Teil'. Oft und oft kamen wir überhaupt nicht zum spielen, wir wurden 'Schneider'. Dies der vulgäre Ausdruck bei Schmieren, wenn die Vorstellung wegen Mangel an Besuch abgesagt werden muß. Das Elend der Truppe stieg ins Ungemessene. (...) - der Direktor hatte nicht genügend Geld zur Übersiedlung in einen anderen Ort und so waren wir gezwungen weiter zu hungern. Die Hauptursache des schlechten Geschäftsganges war der Pfarrer des Dorfes, der in jeder Sonntagspredigt seinen Gläubigen mitteilte, es wäre eine Sünde ins Theater zu gehen, namentlich da die Schauspieler gotteslästerliche Leute seien." (Alfons Bolz Feigl: Erlebnisse eines Schmierenkomödianten. Wien 1913, S.12f)


Derlei bis weit ins 20. Jahrhundert fortwirkende Ressentiments der Kirche gegen das "Fahrende Volk" beruhten nicht allein auf einem vermeintlich "unsittlichen Lebenswandel" sowie entsprechenden Inhalten der Aufführungen von Puppen- und Wanderbühnen. Tatsächlich haben sie weit zurückliegende Ursprünge, wie ein Blick auf die Spielleute, also die fahrenden Artisten, Mimen und Musiker des Mittelalters, zeigt:
Für die allgemeine Geringschätzung der mittelalterlichen Spielleute bzw. der Gaukler und Komödianten der Neuzeit zeichnete sich die Kirche letztendlich sogar entscheidend verantwortlich und rechtliche Sanktionen sowie die Haltung der Obrigkeit lassen deutlich "das kirchliche Diktat erkennen". (Wolfgang Hartung: Die Spielleute. Eine Randgruppe in der Gesellschaft des Mittelalters. Wiesbaden 1982,  S.34) Ihr Tun galt in Augen der Kirche als sündig:
"Wie Lucifer und die Seinen, (...), von Gott abgefallen (...) sind, so ist auch die letzte, niedrigste und gemeinste Klasse der Menschen 'gar von uns gefallen und abtrünnig geworden'. Das sind (...) die  Gungelleute (Possenreißer), Geiger, Tambure und wie sie alle heißen mögen, die Gut für Ehre nehmen. (...) Denn ihr ganzes Leben haben sie auf Sünde und Schande gerichtet und schämen sich keiner Sünde und Schande. Und was der Teufel zu reden verschmäht', wendet sich der Prediger nun direkt an den Spielmann, ''das redest du und alles, was der Teufel in dich schütten kann, läßt du aus deinem Munde gehen. (...) Wer als ein Spielmann in das Reich Gottes eingehen will, (...) wird draußen vor der Tür bleiben müssen, (...) nach einem in Müßiggang verbrachten Leben giebt Gott die ewige Seligkeit niemandem.'" (Theodor Hampe über die Predigt "Von zehn Chören der Engel und der Christenheit" von Berthold von Regensburg" aus dem 13. Jahrhundert: Die Fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1902, S.21f)
Die Spielleute stellten sich nach solchen Auffassungen gegen Gott, die göttliche Ordnung und somit gegen die mittelalterliche Gesellschaft, aus der sie folgerichtig verstoßen waren. Die "In-Beziehung-Setzung des Spielmanns zum Teufel" fand dabei  ihren Niederschlag in der Volkssage, im allgemeinen Denken sowie der bildenden Kunst.
Erst Thomas von Aquin begründete im Zusammenhang mit seiner grundsätzlich positiven Einstellung zum Spiel eine gewisse Lockerung im Verhältnis der Kirche zu den Spielleuten, die sich sittliche und religiöse Maßstäbe hielten. (vgl. Hartung, S.45)
Für die meisten Kleriker hatten jedoch die wenigsten eine Chance zum ewigen Seelenheil. Bezeichnend sind hier die um das Jahr 1300 getätigten Aussagen des Erzbischofs von Centerbury, Thomas a Cabham. Insbesondere Akrobaten und Tänzern, die sich "unzüchtig entblößten und bewegten" und durch das Tragen von Larven heidnische Relikte repräsentierten sowie die musizierenden Spielleute, "die öffentliche Trinkgelage und Festivitäten aufsuchten und die Menschen durch ihre Lieder zur Unzucht und schlechtem Lebenswandel verführten", wird jede Heilserwartung abgesprochen. (vgl. Hartung, S.38f)
Mit den Spielleuten und der Kirche "standen sich im Mittelalter Weltfreudigkeit und spiritualistisch denkende Asketiker gegenüber" (Walter Salmen: Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter. Kassel 1960, S.62)
Mit dem Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft waren den "Fahrenden" bis weit in die Neuzeit hinein oftmals auch die Sakramente verwehrt. Selbst dem angesehenen Schauspieler Johannes Velten wurden noch Ende des 17. Jahrhunderts Abendmahl und Sterbesakramente verweigert (vgl. Gertrud Schubert-Fikentscher: Zur Stellung der Komödianten im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1963, S.77).

Angesichts der sich u.a. in wahren "Hasspredigten" äußernden Ausmaße der auf die gesamte Gesellschaft übergreifenden und so lange fortwirkenden Vorbehalte gegen fahrende Unterhaltungskünstler muss nach deren noch tiefer liegenden Wurzeln gefragt werden:
"Der Zwist zwischen Kirche und Fahrenden reicht bis in die frühchristliche Zeit zurück." (Salmen, S.62) Gaukler und Mime waren in der Spätantike gleichermaßen verachtet. Die Ehrlosigkeit der Gaukler zeigte bereits die gleichen Auswirkungen, die auch die Spielleute des Mittelalters zu erdulden hatten: Sie waren von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, durften keinen Eid leisten, waren Beleidigungen und gerichtlicher Willkür schutzlos ausgeliefert und wurden abseits der Begräbnisstätten begraben. Der Mime der Spätantike unterschied sich dabei weder durch seine Erscheinungsweise noch durch seine Darbietungen sonderlich vom possenreißenden Gaukler, die Grenzen waren fließend (vgl. Werner Danckert: Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe. Bern 1963, S.214): Mit dem Niedergang der antiken Stadtkultur verfiel auch das Theaterwesen und die Mimen mussten nun ihren Unterhalt mit wenig angesehenen Possenreißereien verdienen. (vgl. Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. Bd. I. Salzburg 1957, S.393)
In den Schriften der Kirchenväter wie Tertullian oder Augustinus sind "mimus" und "histrio" ständig wiederkehrende Ärgernisse. Tertullian bezeichnet Bacchus und Venus als ihre Patrone, ihnen seien "Weichheit der Gebärden und sinnliche Darstellung des menschliche Körpers zu eigen". Die damit erzeugte "leidenschaftliche Aufregung" sei sündhaft, hielt die Menschen von Gott fern, verpflichte sie zum Bösen und verbaute ihren Urhebern den Weg zu Seligkeit. (vgl. Hartung, S.30f)
Die gegen die spätantiken Mimen und Gaukler aller Art gefassten Beschlüsse wurden später ohne wesentliche Abweichungen von der Kirche auf die Spielleute des Mittelalters übertragen. (vgl.Salmen, S.63) "Bevor man noch etwas vom Mimus wusste, wusste man durch die kirchliche Literatur wenigstens schon, dass er aufs äußerste lasterhaft und schädlich gewesen sei." (Hermann Reich: Der Mimus. Berlin 1903)

Die tiefer reichenden Gründe für die Verachtung der fahrenden Unterhaltungskünstler von Seiten der Kirchenväter sowie der mittelalterlichen Theologen lagen vor allem in dem Umstand, dass sie "in den joculatores weiterwirkende Träger des von ihnen als überwunden betrachteten Heidentums erblickten" (Salmen, S.63)
Artisten als fahrende Unterhaltungskünstler waren in der Antike, insbesondere in Griechenland weit verbreitet (vgl. Reich, S.27, Hartung 1982) Aus einem Teil der Gaukler erwuchs im 4. und 5. Jahrhundert v.Chr. der antike Mimus, der jedoch immer in "Verwandtschaft zum Gaukler" stand und sich mit ihm öffentliche Plätze als Auftrittsorte teilte. (vgl. Danckert S.214) In späteren Krisenzeiten drängten sie mit fahrenden Musikanten nach Norden. Hier "passten sich die Mimen (...) dem roheren Geschmacke an und bevorzugten wieder mehr die alte Gauklerkunst". (Reich S.809f).
Im keltisch-germanischen Raum stießen sie auf den "Skop" - einerseits die Bezeichnung für höfische Preis- und Heldenliedsänger, andererseits für hochgeachtete, schamanistisch wirkende fahrende Musikanten bzw. Zaubersänger, deren Aura sich späterhin auf den zunächst noch vielfach z.B. als Heilkünstler wirkenden Spielmann des Mittelalters übertrug (dazu Salmen 1960 und Danckert 1963).
Kultische Elemente spielten bei den Vorläufern des Spielmannns im Mittelalter somit eine bedeutende Rolle. "Das Schamanenerbe, die nachklingende Kultmagie, war sicherlich der stärkste Stein des Anstoßes am Spielmannsberuf. Dieses Initialmotiv der Verfemung und Unerhrlichsprechung geriet freilich allmählich in den Hinter- und Untergrund des Bewusstseins. Die 'Leichtfertigkeit', die lockere Lebensführung, das Ungebundene, Frivole wurde Zielscheibe nicht endenwollender Kritik und Bemakelung. Doch die Verlegung der Angriffe ins Feld des Moralischen kann nicht darüberhinwegtäuschen, dass man insgeheim noch immer den 'Zauberer' und 'Geisterbeschwörer' fürchtete und hasste, (...)". (Danckert, S.252)

Vor dem Hintergrund dieser tiefgreifenden Verachtung insbesondere durch kirchliche Fundamentalisten überrascht die Beliebtheit artistischer Produktionen der Spielleute und Gaukler bei weiten Teilen des Volkes, ja selbst des Klerus. "Die ständige Wiederkehr von Ermahnungen, Warnungen, 'Aufklärung" über den wahren Charakter der Spielleute (...), zeigt, daß offizielle Lehrmeinung und Morallehre der Kirche einerseits und die Erwartungshaltung des Klerus sowie sein praktisches Verhalten andererseits weit auseinanderklaffen." (Hartung, S.47)
Tatsächlich kann man in Bezug auf die Spielleute nicht nur von "bloßer Geringschätzung und sozialer Deklassierung" sprechen: "Sie nahmen eine "seltsame Zwitterstellung zwischen tiefer Verachtung und geheimer Ehrung" ein. (vgl. Danckert, S.17ff)
Dieses ambivalente Verhältnis findet - wenn auch unter anderen Vorzeichen - seine Entsprechung in späteren romantisierenden Vorstellungen vom Leben der Fahrenden bzw. der Freude an ihren Darbietungen einerseits und tiefsitzenden Vorurteilen sowie Ausgrenzungen andererseits.

Kinderbuchtitel 1930
"Till Eulenspiegel" ist der popuärste Possenreißer, Gaukler oder
Spielmann im deutschsprachigen Raum.
Zuletzt verfrachtete Daniel Klehmann  diese weitestgehend fiktive Figur
in seinem Roman "Tyll" vom 16. ins 17. Jahrhundert,  wobei er mit vielen
vermeintlich historischen Begebenheiten des 30jährigen Krieges
 - gelinde gesagt - sehr frei umgeht und sogar den Wanderzirkus lange 
vor 
dessen Entstehung gut 200 Jahre in der Zeit zurückteleportiert. 

(Dieser Post enthält über weite Strecken Auszüge eines Kapitels meiner Examensarbeit "Fahrende Artisten in Deutschland" aus dem Jahr 1989.)

Samstag, 17. November 2018

Lebende Bilder


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren "Lebende Bilder" bzw. "Lebende
Skulpturen" beliebte "pikante" Motive auf Bildpostkarten.

Die Nachstellung von Bildwerken der Historien- bzw. Genremalerei oder antiker Skulpturen(gruppen) war besonders im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert eine beliebtes Freizeitvergnügen adliger Kreise - ganz so, wie es Goethe in seinen "Wahlverwandtschaften" beschreibt.
Wie andere Unterhaltungsformen des Adels oder des Bürgertums machten sich Schausteller auch dieses Sujet zu eigen und breiten Volksschichten verfügbar. Dabei verwandelten sich die aufwändig ausgearbeiteten, feinen "Tableaus vivants" zu schwülstigen, auf eine vordergründige Schaulust zielende Szenerien mit zunehmend erotischer Ausrichtung: Unter dem Vorwand einer möglichst realistischen Nachahmung entsprechend ausgewählter Kunstwerke traten die Darsteller häufig in spärlicher Bekleidung oder eng anliegenden Ganzkörperkostümen auf. Der Besucher einschlägiger Jahrmarktsbuden wusste in der Regel, was ihn erwartete, wenn "Lebende Bilder" angekündigt wurden.

Mitte des 19. Jahrhunderts verbargen sich hinter Ankündigungen "Lebender Bilder" in den Schaubuden zumeist 
noch keine "pikanten" Szenerien. Francois Rappo war sogar für besonders geschmackvolle Arrangements in 
seinem Etablissement bekannt.  (Anzeige in einer Ausgabe der des "Leipziger Tageblatts aus dem Jahr 1863)

Panoramen, Automatentheater und andere Schaustellungen bewarben hingegen animierte Gemälde oder Laterna Magika-Darbietungen als "Lebende Bilder" - ebenso wie in ihrer Nachfolge stehende Filmvorführungen, die auf dem Jahrmarkt zuletzt in den für einige Jahre sehr erfolgreichen "Kinematografen-Theatern" gezeigt wurden. Hier etablierte sich die Verwendung des Begriffs "Lebende Bilder" für Filme.
Seine unterschiedlichen Verwendungen im Bereich der Schaustellerei oder auch wortreiche Beschreibungen von Theatrum Mundi-Szenerien auf zeitgenössischen Ankündigungszetteln führten dabei immer wieder zu Missverständnissen. So vermuteten Autoren, die sich mit den Anfängen der Filmgeschiche befassten, hinter Tableaux bzw. bestimmten Programmpunkten in Mechanischen Theatern bisweilen fälschlicherweise frühe Filmvorführungen.

Dienstag, 12. Juni 2018

Circuskino


Titelillustration auf einem französischen Programm 1928, Sammlung Nagel

Um die Jahrhundertwende kamen die meisten Menschen mit dem neuen Medium Film, das zudem oftmals Teil von Varietéprogrammen war, zunächst auf dem Jahrmarkt in Berührung: Die Schausteller erkannten rasch die Anziehungskraft der "Lebenden Bilder" auf die breite Masse und in der ersten Dekade des 20. Jahrunderts zählten Kinematographen-Theater zu den gewinnträchtigsten Attraktionen auf den Festplätzen. (vgl. www.schaubuden.de , Kapitel 3)

Kinoschaubude 1907, Sammlung Nagel

Doch nicht nur in Schaubuden konnte sich das Volk Filme ansehen. Mitunter dienten auch Circuszelte und -gebäude als Vorführstätten.

"Cirque-Cinema-Varieté" um 1910, Sammlung Nagel

Ferdinand Althoff aus der berühmten Circusfamilie betrieb Anfang des 20. Jh. zunächst eine Kinoschaubude, die er 1905 infolge der gestiegenen  Konkurrenz solcher Geschäfte auf den Jahrmärkten durch einen "Kinematograpen-Circus" ersetzte, der auch unabhängig von Volksfesten spielte und nach deren Verbreitung in Orten ohne feste Kinos gastierte.

In den ersten Jahren präsentierte Ferdinand Althoff zwischen
den Filmen noch artistische Einlagen auf einer Bühne vor
der Leinwand. Souvenirkarte, Sammlung Nagel

Weit häufiger als in Circuszelten waren Filmvorführungen in festen Circusbauten.
Die große Zeit glanzvoller Circusvorstellungen in festen Gebäuden hatte um die Jahrhundertwende in vielerlei Hinsicht ihren Zenit überschritten, andere Formen der Unterhaltung spielten eine zunehmend große Rolle und traten in Konkurrenz zum klassischen Circus. Immer mehr Circusse setzten auf das Chapiteau und nutzten die Gebäude vornehmlich im Winter. Diese wurden vermehrt für andere Unterhaltungsangebote in Form von Sporveranstaltungen, Varieté-, Revue- und  Operettenvorstellungen - oder eben Filmvorführungen genutzt.

Der Circus in Rouen um 1912 mit abgedunkeltem Oberlicht als "Mondial Cinema" (Slg. Nagel)

Mit der Zeit traten diese alternativen Verwendungen völlig in den Vordergund und viele der zuweilen schon multifunktional konzpierten Circusse oder "Hippodrome" verwandelten sich vollends in reine Theater- oder Kinogebäude: Nicht wenige der ersten großen Kinopaläste waren ehemalige Circusse.

Wenngleich einige der auf den Jahrmärkten gezeigten Filmprogramme auch Aufnahmen artistischer Darbietungen umfassten, akrobatische Einlagen die ein oder andere Spielszene bereicherten und bisweilen artistische Nummern den Wechsel der Filmrollen überbrückten, so dürfen Einflüsse von Circus bzw. Artistik auf die Entstehungs- bzw. Entwicklungsgeschichte des Kinos jedoch nicht überbewertet werden. Birgit Joest konstruiert in ihrer unter dem Titel "Von fliegenden Menschen, ratlosen Artisten und Unbesiegbaren" veröffentlichten Dissertation (Marburg 2005) einen "Roten Faden" maßgeblicher Einflüsse der performativen Kunst, der sicherlich vorhanden, wenngleich sehr dünn und keineswegs "maßgeblich" war. Bezeichnenderweise verwischt sie u.a. durch die undifferenzierte Verwendung des Begriffs "Zirkuskinematograph" den Unterschied zwischen den seltenen Zirkus(zelt)kinos und den sehr viel häufigeren Kinematographen auf den Jahrmärkten, die Schaubuden waren und in deren Programmen eben doch narrative Elemente in Form von (bisweilen "pikanten") trivialdramatischen oder humoristischen Spielszenen überwogen. (vgl. www.schaubuden.de, S.55ff)


Dienstag, 1. Mai 2018

Haus auf Rädern



Der "klassische" Wohnwagen der Schausteller und Circusleute - im Idealbild mit Oberlicht und kleiner Veranda - geht zurück auf die Maringotte, ein von Pferden gezogener, ursprünglich einachsiger  Wohnwagen der Reisenden, eine Weiterentwicklung eines französischen Kutschentyps gleichen Namens. Die zumeist grün gestrichene Maringotte löste im frühen 19. Jahrhundert die bis dahin üblichen Planwagen ab.



In den Schaustellerwohnwagen ging es im 19. Jahrhundert zumeist wenig komfortabel und vor allem überaus beengt zu. Da aus Kostengründen bzw. aus Mangel an Zugtieren  i.d. R. wenig Wagenmaterial eingesetzt wurde, mussten zudem viele Mitglieder einer Gesellschaft zu Fuß reisen. (vgl. Abbildungen im vorletzten Blog: "... diese ein wenig Flüchtigern noch als wir selbst")
Auch am Standort beherbergten die Wagen oftmals nur die Betreiber der Geschäfte, sogar ihre Kinder mussten sich häufig wie die Gehilfen und Musiker an anderer Stelle ihre Schlafplätze suchen.
Engagierte Artisten größerer Geschäften logierten bis ins 20. Jahrhundert hinein in Gasthäusern oder bei Privatpersonen, die Zimmer vermieteten. Die Vermittlung solcher Unterkünfte war eine der Aufgaben des "Vorreisenden".

Seit dem Ende des 19. Jh schafften sich wohlhabende Direktionen luxeriöse, repräsentative Wohnwagen an. Sie dienten nicht selten als Statusobjekte und die Inneneinrichtung ahmte zumeist (groß-)bürgerliche Wohnungen nach.


Der Manegeriebesitzer Bidel in seinem fahrenden Salon.
Fotografie in einer französischen Illustrierten aus dem Jahr 1897. 

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts kamen darüber hinaus zunehmend öfter Lokomobile und später Straßenschlepper zum Einsatz, die die Wagen entweder direkt zum nächsten Gastspielort oder zur Bahnverladung zogen.


Abbildung aus einer französischen Illustrierten des Jahres 1919


Mitunter musste auch ein Pkw als Zugmaschine genügen. 

Über viele Jahrzehnte zogen in Deutschland Straßenschlepper von Hanomag, Deutz oder Lanz Schausteller- und Circuswagen von Firmen wie Stork, Mack oder Zierer. Einige der Tradition verpflichtete Schausteller pflegen solche alten Schätzchen und führen sie bei passender Gelegenheit vor:



Abbildungen: Sammlung Nagel

Samstag, 4. März 2017

Buden und Farben


Otto Marquardsen: Sonntag auf dem Rummelplatz , "Die Woche" vom 21.9.1929 (Sammlung Nagel)

Es sind nicht zuletzt literarische Texte, die uns den vergangenen (Buden-)Zauber der Jahrmärkte vor Augen führen - wobei der Jahrmarkt oftmals als (vermeintliche) Gegenwelt zu einer rationalen, alles Wunderbaren beraubten Alltagswirklichkeit herausgestellt wird.
Der folgenden, offenkundig von romantischen Gedankenwelten des 19. Jahrhunderts geprägten Auslassungen eines "E. Meyer" in einer Ausgabe der Zeitschrift "Die Woche" aus dem Jahr 1929 sind sicherlich von beschränkter literarischer Qualität und treiben im Bemühen um Originalität einige recht amüsante (Stil-)Blüten, Interessent sind sie jedoch in der "Vorwegnahme" einiger Ansätze, die Ernst Bloch später in "Das Prinzip Hoffnung" unter "Die Südsee in Jahrmarkt und Zirkus" formulierte:

"Glocken, schrille Pfiffe, Rädergeratter, Fettgeruch aus Waffel- und Pufferzelten, turbangeschmückte, gebräunte Fakire und Schlangenbeschwörer, oft aus den unmöglichsten Gegenden eindringlichste Anpreisung unerhörter, noch nie dagewesener Genüsse, buntbemalte Krafthämmer und muskelprotzende Athleten, wahrsagende Papageien, Tierschau vom Floh bis zum Elefanten, Ballons, die unter Kindertränen auf und davon fliegen, alles quirlt kaleidoskopisch hier durcheinander. Dieser Augen-, Ohren- und Geruchsschmaus betäubt die Sinne des Vorstadtbewohners, der aus dem rastlosen Werkgetriebe der Fabrik in die Paradiese strömt. Erwachsene finden hier nach der errechenbaren Mechanik unserer Zeit wieder den ersehnten Zugang zum verwunschenen Zauber der Kindheit. Über alle Blasiertheit und allen Lebensernst des geprüften Volkes hinweg lernen sie hier wieder das Gruseln und Staunen des Märchens, das sonst in aller Aufgeklärtheit des regierenden Verstandes ja so gar keinen Platz mehr im heutigen Lebenstempo hat. Selbst hier in dieser traumhaft bunten, unwirklich-wirklichen Welt der Buden freuen sich die Werktätigen unseres exakten Maschinenzeitalters auf lächerlich unmögliche, allen Naturgesetzen Hohn sprechende Überraschungen zu stoßen, bei denen das so ernst Mechanische sich endlich wieder einmal befreit und sich in ein lustiges, buntverschnörkeltes Gewand verkleidet. Der Dämon der Maschinerie, der sonst im Getöse des Arbeitslärms den Menschen verschluckt, verwandelt und verzaubert sich hier plötzlich in eine Versprechen gebende Märchenfee oder in luftige, polternde Geister. Alle Aufgeklärtheit geht dahin und wird gern einmal beiseite geschoben, wenn der sich heiser schreiende Ausrufer vor der Rampe des Zeltes den skeptisch lächelnden Zuhörer aus der Menge von der Notwendigkeit der Besichtigung der "Weltwunderschau" für zwanzig Pfennig überzeugt hat.
Es ist die so natürliche Sehnsucht nach Naivität und Kindlichkeit, die hier gestillt wird, die einmal vom kritisch verwickelten Betrachten erlöst und ähnlich befreiend wirkt wie der Rausch, der Tanz und das Spiel!" (E. Meyer: Buden und Farben. In: "Die Woche" vom 21.9.1929, S.1075f)

Mittwoch, 14. Dezember 2016

"... diese ein wenig Flüchtigern noch als wir selbst"


Illustration von Rudolf Jank - Programm "Zirkus Schwabylon". München o.J. (Sammlung Nagel)

Die Bezeichnung "Fahrende Leute" wurde lange Zeit fast ausschließlich abwertend gebraucht, zählten die "Fahrenden" im Mittelalter und der frühen Neuzeit doch zu den "unehrlichen Leuten".
Dabei wurde zu allen Zeiten durchaus zwischen einzelnen Gruppen differenziert. Von den verschiedenen Ausprägungen des mittelalterlichen Spielmanns, über die Akrobatentruppen der frühen Neuzeit - bis hin zu den heutigen "Komödianten": Die reisenden Unterhaltungskünstler fanden sich auch im eigenen Selbstverständnis stets an der Spitze des "Fahrenden Volkes".

Petit Journal 1919 (Sammlung Nagel)

Die nichtsdestotrotz vorhandene grundlegenden Abwertung erfuhr erst mit der Romantik eine Wandlung, die allerdings die distanzierte Haltung weiter Teile der Bevölkerung im Alltag nur wenig beeinflusste. Aspekte wie Heimatlosigkeit, Ungebundenheit und nicht zuletzt das Bild stetiger Wanderschaft korrespondierten eng mit der Vorstellungs- und Ideenwelt der Romantiker, die die Fahrenden insbesondere in der Literatur und der Malerei für sich entdeckten. Nachklänge und Simplifizierungen solch romantisierender Vorstellungen beeinflussen bis in die Gegenwart das Bild des Fahrenden Volkes und seiner Geschichte.

Angelo Jank: "Fahrendes Volk"   Zeichnung in einer Ausgabe der "Jugend" von 1905 (Sammlung Nagel)

Zutiefst „romantisch“ war beispielsweise vor allem die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verbreitete Vorstellung seit „Urzeiten“ umherziehender heimatloser „Fahrender“, deren Herkunft „ewig in Dunkelheit gehüllt bleibt“ und die „von Land zu Land zogen, um nach einem sturmgepeitschten Leben irgendwo hinter einer Hecke verscharrt werden. Und kein Kreuz, kein Zeichen kündet, dass da unten ein müdes Herz ausruht vom unsteten Wandern.“ (Signor Saltarino)

Aquarell von Frank Brangwyn, The Studio 1927, Vol.93

Tatsächlich liegt der Beginn des Reisens bei vielen angeblich „uralten“ Sippen Fahrender gar nicht so weit zurück. Zeiten großer wirtschaftlicher Not führten immer wieder dazu, dass verarmte Teile der Bevölkerung ihre sesshafte Lebensweise aufgaben. Die letzte Krisenzeit, die einen deutlichen Anstieg fahrender Gruppen nach sich zog, waren die Jahre um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und nicht wenige unserer Komödiantenfamilien haben hier ihre Anfänge. Andererseits gibt es Genealogien, die sich nicht zu einem ersten Reisenden zurückverfolgen lassen. Hinzu kommt die in früheren Jahrhunderten weitgehende Unmöglichkeit der Eingliederung randständiger Gruppen in die Gesellschaft, die lange Generationenfolgen als Reisende begründete.
So gab es zu allen Zeiten unter den Vaganten Artisten, die dem einfachen Volk ein wenig Abwechslung und Unterhaltung im zumeist recht eintönigen Alltag bescherten.

Gil Blas 24.10.1902 (Sammlung Nagel)


Die Welt der Fahrenden blieb für viele Literaten, bildende Künstler und nicht zuletzt Filmemacher von großer Faszination, wobei die Herangehensweisen einem grundlegenden Perspektivenwechsel erfuhren und zunehmend existentielle Themen in den Mittelpunkt rückten.    

Titelllustration für "Le Grelot" von Alfred Le Petit 1874 (Sammlung Nagel)

Sonntag, 27. November 2016

Unter dem Sternenhimmel


„Die riesige Werbetrommel und ein verheißungsvoller Umzug haben viele Ortsbewohner gelockt zu dem 
nächtlichen Schauspiel. Hell überstrahlen Lampen die Arena, auf der die Artisten ihre Künste zeigen (…).
 Inzwischen aber gehen spielfreie Darsteller mit dem Teller kassieren. Locker lieht ja das Geld in der Tasche,
 solange Herz und Sinne gefangen sind.“ (Aus einer Illustrierten des Jahres 1929, Sammlung Nagel)

Über viele Jahrhunderte produzierten sich das Gros der fahrenden Artisten "publik", d.h. unter freiem Himmel. Der Seiltanz stand oftmals im Mittelpunkt der Darbietungen, demzufolge hielt sich lange Zeit die verallgemeinernde Bezeichnung "Seiltänzergesellschaft" für publik spielende Akrobatentruppen.

Ein zeitgenössischer Bericht samt Holzstich beschreibt das Auftreten einer kleinen „Seiltänzergesellschaft“:
(…), bis ich eines Abends in einem böhmischen Städtchen eine herumziehende Seiltänzergesellschaft traf. Ich mischte mich (…) unter das sehr gemischte Publikum von Schulkindern, welche andächtig schauten, von Mädchen und Weibern, welche entzückt, und von wetterharten Männern, welche kritisch schauten. Die Truppe war so zigeunerhaft und primitiv, als man sie nur wünschen konnte (…). Da war der Herkules mit den Katzenfellbördüren um die Schürstiefelchen, der Tellerdreher mit dem klassischen „Stirnband“ um die ziemlich dünnen Haare, die „starke Frau“, der man einen Amboß auf dem Leibe zerschlug, die zahnlückige, hexenhafte Direktorin, welche abwechselnd die Drehorgel handhaben und das eingesammelte Geld in ein altes Cigarrenkistchen versenken musste, das halbgewachsene, ungraziöse, magere, sonnenverbrannte junge Ding, welches mit ängstlichem Gesichte in vertretenen Seidenschuhen die Drahtseilarbeit in deren erstem Kursus produzierte, und der böhmische Bajazzo (…) welcher krähte, sich Ohrfeigen „mit der Zunge“ geben ließ, auf dem Kopfe stand, Federn balancirte.“ (Illustrirte Welt 1892)


Sammlung Nagel


Bei den meisten solcher „Seiltänzergesellschaften" handelte es sich um Familienverbände mit bescheidenem Einkommen, die sich zwischenzeitlich, z.B. für die Dauer eines größeren Jahrmarkts, zusammenschlossen um konkurrenzfähige Programme bieten zu können.
Berühmt und erfolgreich wurden nur wenige reisende Akrobaten, zumeist Kraftathleten oder Hochseilartisten wie Wilhelm Kolter.
Die Umzäumung des Vorstellungsbereiches ermöglichte es, Eintrittsgelder zu nehmen – auch wenn während der Vorstellung weiterhin um das ein oder andere zusätzliche „Benefiz“ gebeten wurde.
Einige solcher Arenen vergrößerten sich. Oftmals wurde die Auftrittsfläche erhöht, ein Apparat für Luftnummern neben den Masten des Hochseils installiert, die Zuschauerränge ausgebaut und um den Ort des Geschehens zog man mannshohe Leinwandbahnen als Blickschutz.

Sammlung Nagel

Der folgerichtige nächste Schritt war die Anschaffung eines Chapiteaus. Solche Arenen von „Seiltänzergesellschaften“ bildeten somit neben Kunstreitertruppen und Menagerien einen dritten bedeutenden Ausgangspunkt für die Entwicklung von Circussen. Alle traditionellen Unternehmen der Schweiz, ob Gasser, Knie, Nock oder Stey, haben z.B. hier ihre Wurzeln. 


Viele kleine Circusse reisten jedoch bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts als Arena, die Anschaffung eines Chapiteaus und damit die Verwandlung der Arena in einen "richtigen" Circus blieb für viele lange Zeit ein Wunschtraum.
"Auf dem leeren Bauplatz, unter den Fenstern der Vorstadtmietskaserne, hatten sich Kunstreiter eingefunden. (...) Die Gesellschaft war in zwei wackligen Wohnwagen untergebracht. Der Aufzug war äußerst jämmerlich, die Vorstellungen weniger jämmerlich. Es wurde ehrliche Arbeit geleistet. Nagelneues Programm natürlich. Der Circus Flunkert durfte, ohne unbescheiden zu sein, von sich rühmen, dass er bereit sei, mit Renz und Busch, ja selbst mit dem großen Barnum furchtlos in die Schranke zu treten. (...) In zwei Kreisen hatte man Bretterbänke um die Arena herumgeführt, zwischen ihnen und einer umgebenden Schnur war Raum für die Stehplätze." (Gerhart Hauptmann: Wanda, 1927)

Illustration von Albert Weisgerber in einer Ausgabe der "Jugend" von 1910 (Sammlung Nagel)

Die meisten dieser von "Komödianten" betriebenen Arenen präsentierten sich über viele Jahrzehnte hinweg in recht ähnlicher Weise: Zwischen zwei Circuswagen war der Artisteneingang aufgebaut, um die einfache Manege standen Holzbänke, dahinter waren die Stehplätze. Auch die zumeist eher bescheidenen Programme unterschieden sich in der Regel kaum. Es gab triviale Clownerien, Parterreakrobatik, Seiltanz, Ziegen- und Hundedressuren, den „Klugen Hans“ und weitere Pferdedarbietungen, wobei häufig Äffchen als Reiter fungierten. Für weitere tierische Exotik sorgten das obligatorische Trampeltier sowie der Braunbär, den die Familien oft mit sich führten. Einige dieser Freiluftcircusse verfügten zudem über einfache Vorrichtungen für Trapezdarbietungen. Hochseilapparate kennzeichneten eher größere Arenen. Die musikalische Untermalung besorgten jeweils Familienmitglieder mit Pauke, Trompete und bisweilen einer Drehorgel. Auch Jahrmarktsorgeln kamen mitunter zum Einsatz.

Fliegende Blätter, Oktober 1937