Sonntag, 10. Oktober 2010

Freaky Decade

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Während in den siebziger Jahren „Freaks“ hierzulande allenfalls noch in Form der unvermeidlichen "Zwerg-Auguste" in großen Circussen im Schaustellungsbereich in Erscheinung traten, schienen sie zu dieser Zeit eine besondere Faszination auf Künstler und Intellektuelle ausgeübt zu haben. Beispiel hierfür mögen die damals aufkommende Popularität der Fotos von Diane Arbus oder die Wiederentdeckung von Tod Brownings Filmklassiker „Freaks“ sein.

Das bis heute gültige Standardwerk populärer Art zum Thema, „ShowFreaks und Monster“, erschien 1974. Der Autor Hans Scheugl stellt hierin die bekanntesten „Showfreaks“ vergangener Tage vor und  führt interessante Aussagen zum Begriff und zur „Psychologie“ des „Freaks“ sowie zur Abgrenzung des vermeintlich „Normalen“ vom „Abnormalen“ auf. Am Ende des Buches findet sich eine Seite mit einem leeren Rahmen: Hier hat der Leser die Möglichkeit, sein eigenes Konterfei einzukleben.
Die Abbildungen stammen von dem Artisten und Sammler Felix Adanos, der mit seinem „Panopticum 1900“ eine viel beachtete Ausstellung zum Thema „Rrrrrraritäten, Kuriositäten, Extremitäten und Athleten“ präsentierte.

Viele Beispiele für künstlerische Auseinandersetzungen mit der Thematik lieferte immer wieder André Heller. Besonders im Filmschaffen waren „Freaks“ sehr präsent, so bei Ulrike Ottinger in ihrem recht sperrigen Film „Freak Orlando“ von 1981.
Großer Popularität erfreuten sich hingegen die großartigen Filme Federico Fellinis und natürlich die Verfilmung der „Blechtrommel“ mit dem „Freak“ Oscar Matzerath als Hauptfigur.

In den 80ern überwog die "Poltical Correctness", der "Freak" wurde in erster Linie als behinderter Mensch angesehen, dessen "Außerordentlichkeit" bzw. "Besonderheit" möglichst bewusst zu übersehen war. Ein Beispiel ist die Kritik am Engagement von "Klein Helmut" beim Circus Roncalli im Jahre 1983, das schließlich nicht fortgesetzt wurde: "Der kleine Mann leidet entsetzlich unter seinem Ausschluß, Klein Helmut ist ausgestoßen aus dem Königreich der Spaßmacher, wo er jahrelang König war. Niemand von all den modisch-kritischen, (...) intellektuellen, alles hinterfragenden Szene-Mitgliedern hat ihn gefragt, ob er seine Arbeit gerne gemacht hat." (Bernhard Paul in Roncalli und seine Artisten, Köln 1991, S.135)

In der zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends scheint eine neue Lust am Bizarren, "Abnormen" aufzukommen, so tourt z.B. die Gruppe „Tiger Lillies“ erfolgreich mit ihrer "Freak-Show" durch die Lande und die Schauspielerin und Clown-Frau Katharina Witerzens präsentiert sich in ihrem Solo-Programm "Schaubude" u.a. als "kleinwüchsige Prinzessin Perla" sowie als "die hässlichste Frau der Welt". 
Auch in Shows, die auf ein breites Publikum abzielen, spielt das Thema "Freaks" eine zunehmend große Rolle, so in den erfolgreichen "Horror Circussen" oder im Programm "Freaks" der GOP Varieté-Gruppe. 2018 wird sogar der bedeutende Circus Flic Flac eine neue Produktion mit dem Titel "FREAKs" präsentieren.

Die (erneute) Hinwendung von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen zur Thematik mag andere Gründe haben - fällt aber zeitlich auch in diesen Rahmen. Drei Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum sind "Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert" von Birgit Stammberger (Bielefeld 2011), "Monstrosität, Malformation, Mutation: Von der Mythologie zur Pathologie" von Stephanie Nestawal (Frankfurt/M. 2010) und "Deformation und Transdifferenz. Freak Show, frühes Kino, Tod Browning" von Lars Nowak (Berlin 2011).

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Freitag, 17. September 2010

Spidora



Der Schriftzug für meinen neusten Schaubudenaushang ist diesmal nicht einem amerikanischen Sideshow-Banner entlehnt, sondern B-Movie-Plakaten der Horror-, Sciene Fiction- und Krimisparte aus den 50er Jahren. Er passt ganz gut zu diesem weiteren Klassiker unter den Schaubuden-Illusionen, dem Spinnenweib "Spidora" oder "Arachna", wie sie hierzulande oft hieß.            

Die schwarzhaarige Marylin nach dem bekannten Warhol-Bild verkörpert die weibliche Spinne, die ihren Partner nach der Paarung gleich noch einmal "vernascht", wobei die Knochen diesen reißerischen Aspekt noch verstärken sollen. Diese Spiegelillusion einer Riesenspinne mit einem sprechenden Frauenkopf war einst in Schaubuden weit verbreitet und muss auf die Betrachter oft großen Eindruck gemacht haben. 

Zwischenzeitliche Versuche, diese Schaustellung wieder zu beleben, konnten allerdings wegen der i.d.R. miserablen, dilettantischen Umsetzungen nicht so recht überzeugen. (Weitere Informationen zu dieser und zu anderen Illusionen finden sich im gleichnamigen Kapitel unter www.schaubuden.de.)


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Mittwoch, 25. August 2010

Daumenkinographie

oder "Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt."

Bildquelle: www.daumenkinographie.de
                                                                                                                  
Die Zeiten, als Guckkastenmänner durch die Lande zogen, um den einfachen Leuten für kleines Geld durch die Linsen ihrer Kästen Einblicke in die Welt jenseits ihres bilderarmen, begrenzten Lebensraumes zu gewähren, sind lange vorbei.
Der Künstler Volker Gerling jedoch reist auch heute zu Fuß durch die Lande, um den Menschen "am Straßenrand und über den Gartenzaun", auf "Dorffesten und Märkten" sowie in Kneipen seine Bilder auf einem Bauchladen mit der Beschriftung "Besuchen Sie meine Wanderausstellung" zu präsentieren. Von dem "symbolischen Austritt", den die "Besucher der Ausstellung" in ein untergeschraubtes Honigglas werfen können, bestreitet er seinen Lebensunterhalt während der langen Wanderschaften durch Deutschland.
Seine Kunstwerke scheinen auf den ersten Blick wenig spektakulär: Volker Gerling fotografiert Gesichter. Er belichtet einen ganzen 36er Kleinbildfilm mit einer Motorkamera - 12 Sekunden, die erstaunlich viel über die so portraitierte Person erzählen, indem Gerling die entwickelten Bilder eines Films als faszinierendes Daumenkino präsentiert.
Auf seiner interessanten Homepage www.daumenkinographie.de ist mehr über das Konzept der "Daumenkinographie" zu erfahren - und auch Termine seiner überaus unterhaltsamen Vorträge.

Die Funktionsweise des Daumenkinos entspricht übrigens der des Mutoskops, ein Guckkasten, durch den schon vor dem Aufkommen des Films durch eine Linse "lebende Bilder" zu sehen waren. Durch das Drehen einer Kurbel wurden auf einer Walze befestigte Serienbilder in Bewegung gesetzt. Auf Höhe der Linse befand sich ein Anschlag, der das jeweilige Bild für einen Augenblick anhielt. In der Abfolge der rasch aufeinander folgenden, kurz angehaltenen Bilder entstand der Eindruck eines ablaufenden Films.
Mutoskope wurden von Schaustellern noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gezeigt - nicht selten mit "pikanten" Inhalten.


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Sonntag, 8. August 2010

Sie laufen und laufen und laufen ...

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Indian-Scout vor der Steilwand von Blume (Foto: Nagel)

Letzte Repräsentanten einer alten faszinierenden Jahrmarktstradition, die tatsächlich noch "Schaustellungen" im eigentlichen Wortsinne beinhaltete, sind die drei hierzulande verbliebenen Steilwände. Das Betreiben einer solchen Show ist ein Knochenjob, womit nicht nur die mehrmals am Tag stattfindenden Paraden und waghalsigen Vorstellungen gemeint sind: Die Geschäfte, Hugo Dabberts "Moto-Drom" stammt aus dem Jahre 1928, bestehen aus vielen, zum Teil sehr schweren Einzelteilen und es bereitet viel Arbeit den Holzkessel, die Aufgänge, das Zuschauerpodium und die Fassade mit dem Paradepodium aufzubauen. 
In den Shows sind nach wie vor alte Indian-Motorräder vom Typ "Scout" zu sehen, die sich bei den Steilwandfahrern wegen ihrer Zuverlässigkeit und des niedrig liegenden Schwerpunkts von jeher größter Beliebtheit erfreuen. Die Maschinen wurden ab 1920 gebaut, die verbesserte "Scout 101" 1928-1932. Motorrad-Enthusiasten werden beim Anblick dieser Motorrad-Legenden allerdings nur bedingt ins Schwärmen geraten: Aufgrund harter Beanspruchungen über viele Jahrzehnte sowie zahlreicher "Modifikationen" im Hinblick auf die besonderen Einsatzbedingungen unterscheiden sich diese Maschinen doch sehr von ihrem Originalzustand...
Nicht viel jünger als die Indian-Motorräder ist das Urgestein unter den Steilwandfahrern: Hugo Dabbert, der mittlerweile weit über 70 ist und Dutzende von Knochenbrüchen erlitten hat, begann 1959 und fährt bis heute.

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Samstag, 8. Mai 2010

"Gott erhalte ihn über die sachlichen Zeiten"


Der wunderbare Text "Die Südsee in Jahrmarkt und Zirkus" in "Das Prinzip Hoffnung" von Ernst Bloch war einer der wesentlichen Anstöße zu näheren Beschäftigung mit dem Budenzauber auf den Jahrmärkten vergangener Zeiten. Ein Zitat hieraus bildet seit der ersten veröffentlichten Version den Anfang von www.schaubuden.de.
Auch in seinem Aufsatz "Mannheim. Aus freundlicher Erinnerung" von 1931 weiß Bloch die einmalige Magie der Jahrmarktsschaustellungen in ihrer ganzen Vielfalt in besonderer Weise zu schildern - wobei er die deutlichen Anzeichen für ihr Verklingen nicht übersah:
"(...) Sechs Budenreihen sind auf dem langen Platz aufgestellt, sie zeigen, wie groß die Welt ist. Hier steht eine Bude als Schiffsrumpf und hat die Schrecken des Orinoko in sich, die Muschel heulen zum Orchestrion und Meerweibchen klirren mit ihren Ketten. Dort sind `Seltene Menschen und ihre Kunst`: ein Cowboy wirft seine Dame vom Kopf bis zu den Füßen mit Messern ein, Hermaphroditen singen, ägyptische Goldweiber leuchten, lebende Aquarien verschlucken Frösche und speien sie zappelnd wieder aus. Am Schluß zappelt die Bühne selber von Menschen, aus denen ein Magier Hypnose gemacht hat; er sagt auch: wie die alten Brahmanen und Ägypter in ihren `Tempeln und Extrahallen`. Afrika und Asien sind vor Anker gefahren, doch ebenso sind wir die Wilden, zu denen Europa kommt. Ein etwas ordinärer Bilderbogen breitet sich da aus, gewiß, doch allein schon seine süddeutsche Fülle unterscheidet ihn vom einfallslosen preußischen Rummelplatz, dem ebendeshalb  früh mechanisierbaren. Statt dessen war der Mannheimer Jahrmarkt noch ein Stück Barock des kleinen Mannes, `Curiöses`versammelnd, samt dem wahrsagenden Bären des Zauberers Salandrini und der nie geheuren Wachsfigur. Noch viel mehr Kolportage gab der Mannheimer Jahrmarkt her, Gott erhalte ihn über die sachlichen Zeiten.
(...)" (Bd. 9 der Gesamtausgabe, Frankfurt/M. 1965, S.405f)


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Freitag, 26. Februar 2010

Auf dem fliegenden Teppich des Außergewöhnlichen zu den Banalitäten der Welt


In vielen der phantastischen Filme Terry Gilliams wimmelt es von skurrilen Gestalten. So auch in "Das Kabinett des Dr. Parnassus" von 2009, wobei dieses Kabinett äußerlich eine Mischung aus barocker Wanderbühne und Schaubude darstellt.
Die Affinität zu den Schaubuden-Freaks lässt sich auch biographisch erklären. Als Heranwachsender half Terry Gilliam einmal in einer Freakshow aus. Seine Erinnerungen daran geben auch einen interessanten Einblick in die eigenwillige Erzählweise dieses großen Filmemachers:
"Es war nur für einen Tag: Ich half beim Zeltaufbau für das Monstrositätenkabinett. Die Zirkuswelt - vor allem die Schaubuden - hatte mich schon immer begeistert, und ich ar fasziniert von den außergewöhnlichen Körpern, die die Natur vor allem in den geheimnisvollsten und ungezähmtesten Teilen der Erde hervorbringt: Gummimenschen aus Borneo, Kongobewohner, halb Mensch, halb Krokodil, Spitzköpfe aus Siam - oder Sealo, der Seehundjunge aus der Arktis. Auf den Plakaten wirkten sie exotisch, sexy und erschreckend, und an jenem Tag blickte ich erstmals hinter die Kulissen. Dort herrschte keinerlei Magie, alles war höchst profan - nach dem Aufstellen des Zeltes konnte ich durchs Lager streifen, bevor die Zuschauer kamen, und die seltsamen Gestalten treffen, die sich als Freaks ihr Geld verdienten. Zwar sahen sie nicht normal aus, aber sie verhielten sich zu meiner Enttäuschung völlig langweilig, spielten Karten, wuschen ihre Wäsche, rauchten, schimpften über das Wetter - genau wie die normalen Leute, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte. Sie waren überhaupt nicht wie die faszinierenden, bizarren, magischen Monster auf den Plakaten. Ich war verwirrt - ich sehnte mich verzweifelt nach Exotik, war aber auch erleichtert, dass Menschsein und Normalität wohl doch die Welt regierten. Seitdem bin ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, auf dem fliegenden Teppich des Außergewöhnlichen aufzusteigen und ihn gleichzeitig zu entmystifizieren und in die banale Welt zurückzuholen."(Terry Gilliam in Python über Python. Die Autobiografie von Monty Python. Dt. Köln 2004, S.60f)

Detail einer alten Postkarte, Sammlung Nagel