Sonntag, 27. November 2016

Unter dem Sternenhimmel


„Die riesige Werbetrommel und ein verheißungsvoller Umzug haben viele Ortsbewohner gelockt zu dem 
nächtlichen Schauspiel. Hell überstrahlen Lampen die Arena, auf der die Artisten ihre Künste zeigen (…).
 Inzwischen aber gehen spielfreie Darsteller mit dem Teller kassieren. Locker lieht ja das Geld in der Tasche,
 solange Herz und Sinne gefangen sind.“ (Aus einer Illustrierten des Jahres 1929, Sammlung Nagel)

Über viele Jahrhunderte produzierten sich das Gros der fahrenden Artisten "publik", d.h. unter freiem Himmel. Der Seiltanz stand oftmals im Mittelpunkt der Darbietungen, demzufolge hielt sich lange Zeit die verallgemeinernde Bezeichnung "Seiltänzergesellschaft" für publik spielende Akrobatentruppen.

Ein zeitgenössischer Bericht samt Holzstich beschreibt das Auftreten einer kleinen „Seiltänzergesellschaft“:
(…), bis ich eines Abends in einem böhmischen Städtchen eine herumziehende Seiltänzergesellschaft traf. Ich mischte mich (…) unter das sehr gemischte Publikum von Schulkindern, welche andächtig schauten, von Mädchen und Weibern, welche entzückt, und von wetterharten Männern, welche kritisch schauten. Die Truppe war so zigeunerhaft und primitiv, als man sie nur wünschen konnte (…). Da war der Herkules mit den Katzenfellbördüren um die Schürstiefelchen, der Tellerdreher mit dem klassischen „Stirnband“ um die ziemlich dünnen Haare, die „starke Frau“, der man einen Amboß auf dem Leibe zerschlug, die zahnlückige, hexenhafte Direktorin, welche abwechselnd die Drehorgel handhaben und das eingesammelte Geld in ein altes Cigarrenkistchen versenken musste, das halbgewachsene, ungraziöse, magere, sonnenverbrannte junge Ding, welches mit ängstlichem Gesichte in vertretenen Seidenschuhen die Drahtseilarbeit in deren erstem Kursus produzierte, und der böhmische Bajazzo (…) welcher krähte, sich Ohrfeigen „mit der Zunge“ geben ließ, auf dem Kopfe stand, Federn balancirte.“ (Illustrirte Welt 1892)


Sammlung Nagel


Bei den meisten solcher „Seiltänzergesellschaften" handelte es sich um Familienverbände mit bescheidenem Einkommen, die sich zwischenzeitlich, z.B. für die Dauer eines größeren Jahrmarkts, zusammenschlossen um konkurrenzfähige Programme bieten zu können.
Berühmt und erfolgreich wurden nur wenige reisende Akrobaten, zumeist Kraftathleten oder Hochseilartisten wie Wilhelm Kolter.
Die Umzäumung des Vorstellungsbereiches ermöglichte es, Eintrittsgelder zu nehmen – auch wenn während der Vorstellung weiterhin um das ein oder andere zusätzliche „Benefiz“ gebeten wurde.
Einige solcher Arenen vergrößerten sich. Oftmals wurde die Auftrittsfläche erhöht, ein Apparat für Luftnummern neben den Masten des Hochseils installiert, die Zuschauerränge ausgebaut und um den Ort des Geschehens zog man mannshohe Leinwandbahnen als Blickschutz.

Sammlung Nagel

Der folgerichtige nächste Schritt war die Anschaffung eines Chapiteaus. Solche Arenen von „Seiltänzergesellschaften“ bildeten somit neben Kunstreitertruppen und Menagerien einen dritten bedeutenden Ausgangspunkt für die Entwicklung von Circussen. Alle traditionellen Unternehmen der Schweiz, ob Gasser, Knie, Nock oder Stey, haben z.B. hier ihre Wurzeln. 


Viele kleine Circusse reisten jedoch bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts als Arena, die Anschaffung eines Chapiteaus und damit die Verwandlung der Arena in einen "richtigen" Circus blieb für viele lange Zeit ein Wunschtraum.
"Auf dem leeren Bauplatz, unter den Fenstern der Vorstadtmietskaserne, hatten sich Kunstreiter eingefunden. (...) Die Gesellschaft war in zwei wackligen Wohnwagen untergebracht. Der Aufzug war äußerst jämmerlich, die Vorstellungen weniger jämmerlich. Es wurde ehrliche Arbeit geleistet. Nagelneues Programm natürlich. Der Circus Flunkert durfte, ohne unbescheiden zu sein, von sich rühmen, dass er bereit sei, mit Renz und Busch, ja selbst mit dem großen Barnum furchtlos in die Schranke zu treten. (...) In zwei Kreisen hatte man Bretterbänke um die Arena herumgeführt, zwischen ihnen und einer umgebenden Schnur war Raum für die Stehplätze." (Gerhart Hauptmann: Wanda, 1927)

Illustration von Albert Weisgerber in einer Ausgabe der "Jugend" von 1910 (Sammlung Nagel)

Die meisten dieser von "Komödianten" betriebenen Arenen präsentierten sich über viele Jahrzehnte hinweg in recht ähnlicher Weise: Zwischen zwei Circuswagen war der Artisteneingang aufgebaut, um die einfache Manege standen Holzbänke, dahinter waren die Stehplätze. Auch die zumeist eher bescheidenen Programme unterschieden sich in der Regel kaum. Es gab triviale Clownerien, Parterreakrobatik, Seiltanz, Ziegen- und Hundedressuren, den „Klugen Hans“ und weitere Pferdedarbietungen, wobei häufig Äffchen als Reiter fungierten. Für weitere tierische Exotik sorgten das obligatorische Trampeltier sowie der Braunbär, den die Familien oft mit sich führten. Einige dieser Freiluftcircusse verfügten zudem über einfache Vorrichtungen für Trapezdarbietungen. Hochseilapparate kennzeichneten eher größere Arenen. Die musikalische Untermalung besorgten jeweils Familienmitglieder mit Pauke, Trompete und bisweilen einer Drehorgel. Auch Jahrmarktsorgeln kamen mitunter zum Einsatz.

Fliegende Blätter, Oktober 1937

Samstag, 19. November 2016

Kinderarbeit


"Die kleine Kunstreiterin", kolorierter Holzstich von 1885 (Sammlung Nagel)


"Pagliaß bereitete erst die Versammlung mit einigen Albernheiten, worüber die Zuschauer immer zu lachen pflegen, zur Aufmerksamkeit und guten Laune vor. Einige Kinder, deren Körper die seltsamsten Verrenkungen darstellten, erregten bald Verwunderung, bald Grausen, und Wilhelm konnte sich des tiefen Mitleidens nicht enthalten, als er das Kind, an dem er beim ersten Anblicke teilgenommen, mit einiger Mühe die sonderbaren Stellungen hervorbringen sah."
(Goethe, Wilhelm Meister)


Souvenirkarte 1903, Sammlung Nagel

Artistische Darbietungen von Kindern sind bis in die Gegenwart fester Bestandteil der Programme von Familiencircussen. In diesen von alten "Komödianten"-Sippen betriebenen Kleincircussen bestehen anachronistisch anmutende Formen des sozialen Miteinanders fort, in deren Mittelpunkt die Familie steht. Vor dem Hintergrund des Ineinandergreifens von Familie und Erwerbstätigkeit bzw. Lebens- und Arbeitswelt muss auch das stark spielerisch geprägte und selbstverständliche Hineinwachsen der Kinder in ihre spezifische Lebenswelt bewertet werden: Circuskinder, die in der Regel zu ausgesprochen starken, familienorientierten Persönlichkeiten heranwachsen, leisten eben keine fremdbestimmte "Kinderarbeit".  


Holzschnitt in einer Ausgabe der Zeitschrift L'Illustration aus dem Jahr 1892, Sammlung Nagel

Dieser selbstverständliche Einbezug von Kindern in die Programme fahrender Artisten schließt sich nahtlos an die gängige Praxis früherer Zeiten an. Ob Schaubude, Arena, Bankisten, Kunstreiter- oder Seiltänzergesellschaft: Immer wurden die zumeist zahlreichen Kinder schon früh in die Vorstellungen einbezogen. Dabei ging es nicht nur darum, die Programme der zumeist in Familienverbänden reisenden Truppen zu strecken: Die artistischen Fähigkeiten der kleinen Künstler stellten oftmals gerade angesichts ihrer besonders hervorgehobenen und nicht immer ganz exakt angegebenen jungen Jahre eine Attraktion dar.


Holzstich 1890, Sammlung Nagel

Reichten die Einnahmen nicht, um alle Mäuler zu stopfen, wurden Kinder zu anderen Gesellschaften "in die Lehre" gegeben, um dort eine zu damaligen Zeiten nicht nur im Artistenmilieu harte Ausbildung zu absolvieren und das Repertoire zu erweitern.

Die sizilianische Seiltänzerin (Friedrich Hebbel)


       Süßes, reizendes Mädchen! Du tanzest drinnen, doch draußen
    Schlägst du die Becken zuvor, daß sich die Bude dir füllt.
Rot ist dein Kleid, und es stechen davon die weißen Korallen
    Zierlich ab, die du fein dir um das Hälschen gehängt.
Aber wehe! Du ließest die Schellen zu mächtig ertönen
    Und zerquetschtest dabei leider ein Perlchen der Schnur.
Traurig senkst du das Köpfchen und blickst zur älteren Schwester
    Still hinüber und flehst stumm um ihr Mitleid sie an.
Doch sie lächelt verächtlich, und dreht dir den Rücken und wirft ihr
    Tamburin so in die Luft, daß es, gefangen, zerspringt.
Ärmste, ich kann sie verstehn! Sie hat schon Bessres verloren,
    Und dein kindlicher Schmerz um den zerschmetterten Tand,
Der die Reinheit der Seele, die fleckenloseste, spiegelt,
    Mahnt sie an deinen Besitz, ach! und an ihren Verlust!



Ein anderes - trauriges - Kapitel in der Geschichte des ambulanten Unterhaltungsgewerbes stellt die Schaustellung von Kindern mit einem auffälligen Äußeren dar. Tatsächlich waren unter den "merkwürdigen Naturwundern" von riesenhaftem Wuchs, abnormer Körperbehaarung oder mit körperlichen Missbildungen seit jeher Kinder, die zumeist von geschäftstüchtigen Impresarios bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Schaubuden und Sälen zur Schau gestellt wurden. 



Faltblatt mit "Erläuterungen", das Besucher der Schaustellung erwerben konnten (Sammlung Nagel)



Dienstag, 15. November 2016

Verfallen


"Und wenn er an sein kühles, hochmütiges Weib dachte - und dann an das Zirkusmädel ...
Heiß und kalt wurde ihm dabei."
 (Hendrik de Molder: Die Zigeunerin)

Farbdruck eines Bildes von Gustave Courtois in einer Ausgabe von "Figaro Illustré" aus dem Jahr 1894

"Der Wagen trägt eine Menge von wunderlichem Gerät, bunten Lappen, Stricken, Stangen und obenauf schwebt eine große Trommel. Neben dem Wagen geht ein baumlanger, wild aussehender Mann, mehrere Burschen von verschiedenem Alter und ein schlankes, seltsam schönes, wenn auch völlig braunes Mädchen in jugendlicher Kraft und Fülle. Barfuß, nur mit einem dünnen Unterrock bekleidet und einem bis an den Hals schließenden Hemdchen, beide blendend weiß, trägt sie sich voll natürlicher Anmut, zeigt bei jedem ihrer Schritte die herrlichste Gestalt und läßt ihr schwarzes Haar sorglos flattern, den brennenden Blick umherwerfend, als ob Dorf und nebenbei das ganze Land ihr gehörten." (Karl von Holtei: Die Vagabunden)

Es ließe sich trefflich darüber spekulieren, warum "Zigeunerinnen" und Frauen anderer Gruppen des "Fahrenden Volkes" eine so große Faszination auf Männer ausübten. Einerseits mag das in der tatsächlichen "Andersartigkeit" dieser Frauen begründet liegen, deren Auftreten weniger engen Normen unterworfen war als das ihrer Geschlechtsgenossinnen - ganz gleich ob aus dem Bauern- oder Bürgertum oder auch aus dem Adel. Zum anderen wird diese (vermeintliche) Andersartigkeit Phantasien bzw. Projektionen unterdrückter Wünsche angeregt haben - zumal die Fahrenden diesbezüglich durchaus bewusst geschäftsdienliche Publikumsanreize einsetzten und somit die Verbreitung von Klischees noch förderten.

"Er ließ seinen Blick über die übrigen Buden gleiten und sah nach dem großen Zelt hinüber, in dem die Parade der Artisten soeben den Anfang genommen hatte. Er sah eine Kolombine, eine spanische Tänzerin und eine Schulreiterin in enganliegender Amazone; sie alle wurden der staunenden Menge von einem Klown angekündigt. 
'Verfluchte Mädels!' dachte er bei sich, 'dazu sind sie wohl zu haben, das wollen sie alle. (...) Tanzen und liederlich leben, das können sie. - Was sollte daraus wohl werden? Unglück, lauter Unglück! - Aber daran ist nichts mehr zu ändern, es liegt ihnen nun einmal im Blut.'" (Barend Canter: Fahrend Volk)

Tatsächlich verfielen immer wieder Männer aller Schichten dem Reiz dieser Frauen - weltbekannt wurde beispielsweise die tragische Liebesgeschichte zwischen der Seiltänzerin Elvira Madigan und einem adligen Offizier - und nicht selten schlossen sie sich aus Liebe dem "Fahrenden Volk" an.

Das Thema erfuhr zudem zahlreiche künstlerische  Umsetzungen, ob in der Malerei, der Musik (z.B. Bizets "Carmen", Smetanas "Die verkaufte Braut" oder Janaceks "Tagebuch eines Verschollenen"), der Literatur (Hauptmanns "Wanda" und Heinrich Manns "Der Löwe" zum Beispiel) oder immer wieder im Film.

Ernst Kutzer, Bildpostkarte um 1910

"Denn Springer und Kunstreiter waren Quaasens unentwegte Passion, seit er als zwanzigjähriger Junge mal auf dem Punkte gestanden hatte, mit einer Kunstreiterin auf und davon zu gehn. Seine Mutter jedoch hatte Wind davon gekriegt und ihn nicht bloß in den Milchkeller gesperrt, sondern auch den Direktor der Truppe gegen ein erhebliches Geldgeschenk veranlaßt, die gefährliche Person' bis nach Reppen hin vorauszuschicken." (Fontane: Unterm Birnbaum)  

Dass Frauen ebenso verborgene Sehnsüchte auf die Fahrenden projizierten und ihren vermeintlichen Reizen erliegen konnten, ist Thema des Films "Abgründe" mit Asta Nielsen von 1910 - und einer Episode in den Lebenserinnerungen der Schauspielerin Olga Heydecker-Langer: "Als am kleinen Exerzierplatz vergnügte Wohnwagen angefahren kamen, im Handumdrehen ein Chapiteau aufgebaut war und an allen Häuserecken und Bretterzäunen bunte Plakate funkelten: 'Zirkus Lorch', da klopfte mein Herz dieser fahrenden Zunft so erwartungsvoll entgegen, als wollte es sagen: 'Gott schütze mich vor den seßhaften Freuden einer schläfrigen Seßhaftigkeit!'
Als wir aber dann gar (...) bei der Eröffnungsvorstellung in der ersten Reihe saßen, und der elegante Jockeireiter, Harry Althoff, von seinem Schimmel herunter, ganz ungeniert mit mir zu kokettieren anfing, (...), da knisterte in mir ein boshaftes Feuerchen weiblicher Eitelkeit, listiger Macht und verschlagener Sinnlichkeit.
Edle Regungen waren das nun gerade nicht, aber - Hand aufs Herz - welcher Mensch hat denn immer nur edle Regungen?" (Olga Heydecker-Langer: Lebensreise im Komödiantenwagen. Bd.2. Berlin 1928, S.86)