"Der Wagen trägt eine Menge von wunderlichem Gerät, bunten Lappen, Stricken, Stangen und obenauf schwebt eine große Trommel. Neben dem Wagen geht ein baumlanger, wild aussehender Mann, mehrere Burschen von verschiedenem Alter und ein schlankes, seltsam schönes, wenn auch völlig braunes Mädchen in jugendlicher Kraft und Fülle. Barfuß, nur mit einem dünnen Unterrock bekleidet und einem bis an den Hals schließenden Hemdchen, beide blendend weiß, trägt sie sich voll natürlicher Anmut, zeigt bei jedem ihrer Schritte die herrlichste Gestalt und läßt ihr schwarzes Haar sorglos flattern, den brennenden Blick umherwerfend, als ob Dorf und nebenbei das ganze Land ihr gehörten." (Karl von Holtei: Die Vagabunden)
Es ließe sich trefflich darüber spekulieren, warum "Zigeunerinnen" und Frauen anderer Gruppen des "Fahrenden Volkes" eine so große Faszination auf Männer ausübten. Einerseits mag das in der tatsächlichen "Andersartigkeit" dieser Frauen begründet liegen, deren Auftreten weniger engen Normen unterworfen war als das ihrer Geschlechtsgenossinnen - ganz gleich ob aus dem Bauern- oder Bürgertum oder auch aus dem Adel. Zum anderen wird diese (vermeintliche) Andersartigkeit Phantasien bzw. Projektionen unterdrückter Wünsche angeregt haben - zumal die Fahrenden diesbezüglich durchaus bewusst geschäftsdienliche Publikumsanreize einsetzten und somit die Verbreitung von Klischees noch förderten.
"Er ließ seinen Blick über die übrigen Buden gleiten und sah nach dem großen Zelt hinüber, in dem die Parade der Artisten soeben den Anfang genommen hatte. Er sah eine Kolombine, eine spanische Tänzerin und eine Schulreiterin in enganliegender Amazone; sie alle wurden der staunenden Menge von einem Klown angekündigt.
'Verfluchte Mädels!' dachte er bei sich, 'dazu sind sie wohl zu haben, das wollen sie alle. (...) Tanzen und liederlich leben, das können sie. - Was sollte daraus wohl werden? Unglück, lauter Unglück! - Aber daran ist nichts mehr zu ändern, es liegt ihnen nun einmal im Blut.'" (Barend Canter: Fahrend Volk)
Tatsächlich verfielen immer wieder Männer aller Schichten dem Reiz dieser Frauen - weltbekannt wurde beispielsweise die tragische Liebesgeschichte zwischen der Seiltänzerin Elvira Madigan und einem adligen Offizier - und nicht selten schlossen sie sich aus Liebe dem "Fahrenden Volk" an.
Das Thema erfuhr zudem zahlreiche künstlerische Umsetzungen, ob in der Malerei, der Musik (z.B. Bizets "Carmen", Smetanas "Die verkaufte Braut" oder Janaceks "Tagebuch eines Verschollenen"), der Literatur (Hauptmanns "Wanda" und Heinrich Manns "Der Löwe" zum Beispiel) oder immer wieder im Film.
"Denn Springer und Kunstreiter waren Quaasens unentwegte Passion, seit er als zwanzigjähriger Junge mal auf dem Punkte gestanden hatte, mit einer Kunstreiterin auf und davon zu gehn. Seine Mutter jedoch hatte Wind davon gekriegt und ihn nicht bloß in den Milchkeller gesperrt, sondern auch den Direktor der Truppe gegen ein erhebliches Geldgeschenk veranlaßt, die gefährliche Person' bis nach Reppen hin vorauszuschicken." (Fontane: Unterm Birnbaum)
Dass Frauen ebenso verborgene Sehnsüchte auf die Fahrenden projizierten und ihren vermeintlichen Reizen erliegen konnten, ist Thema des Films "Abgründe" mit Asta Nielsen von 1910 - und einer Episode in den Lebenserinnerungen der Schauspielerin Olga Heydecker-Langer: "Als am kleinen Exerzierplatz vergnügte Wohnwagen angefahren kamen, im Handumdrehen ein Chapiteau aufgebaut war und an allen Häuserecken und Bretterzäunen bunte Plakate funkelten: 'Zirkus Lorch', da klopfte mein Herz dieser fahrenden Zunft so erwartungsvoll entgegen, als wollte es sagen: 'Gott schütze mich vor den seßhaften Freuden einer schläfrigen Seßhaftigkeit!'
Als wir aber dann gar (...) bei der Eröffnungsvorstellung in der ersten Reihe saßen, und der elegante Jockeireiter, Harry Althoff, von seinem Schimmel herunter, ganz ungeniert mit mir zu kokettieren anfing, (...), da knisterte in mir ein boshaftes Feuerchen weiblicher Eitelkeit, listiger Macht und verschlagener Sinnlichkeit.
Edle Regungen waren das nun gerade nicht, aber - Hand aufs Herz - welcher Mensch hat denn immer nur edle Regungen?" (Olga Heydecker-Langer: Lebensreise im Komödiantenwagen. Bd.2. Berlin 1928, S.86)
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