Mittwoch, 27. Juli 2011

Der falsche Doktor und die Surrealisten

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Die Schaustellungen auf dem Jahrmarkt lieferten Anregungen für zahlreiche Werke von Literaten und bildenden Künstlern, aber auch von Fotografen und darstellenden Künstlern.
Im Fall des Malers Paul Delvaux (1897-1994) bildete der Besuch in einer Schaubude sogar einen entscheidenden Anstoß für seine Wandlung zu einem der bedeutendsten surrealistischen Maler: "Als die Brüsseler Kirmes öffnete, ging ich jeden Morgen und Abend dort spazieren, und da sah ich, dass es dort eine Bude gab, in der das Spitzner-Museum untergebracht war. Dieses Spitzner-Museum war für mich eine großartige Entdeckung. Das war wirklich eine sehr wichtige Wende, und ich kann Ihnen heute sagen, dass diese Entdeckung zeitlich zwar vor der De Chiricos lag, dass sie aber die gleiche Bedeutung hatte. (...) Die Entdeckung des Spitzner-Museums hat meine Auffassung von der Malerei verändert. Ich stelle damals fest, dass man durch die Malerei ein Drama ausdrücken und dabei doch ganz im plastischen Bereich bleiben konnte. Vor allem der Gegensatz zwischen dem Drama, der Pseudo-Wissenschaftlichkeit des Spitzner-Museums, der ungesunden, ungewöhnlichen und düsteren Atmosphäre und der Umgebung auf dem Marktplatz mit den Buden, den Karussells und der Musik, deren Fröhlichkeit aufgesetzt klang. Das war ein ganz starker Gegensatz zu dieser Seite." (1)

Das Spitzner-Museum, welches Delvaux in den frühen 1930er Jahren Anregungen für zahlreiche Bilder lieferte und im Jahr 1943 sogar titelgebendes Thema eines seiner Hauptwerke war (2), zählte zu den anatomischen-pathologischen Wachsfigurenkabinetten, die sich aus den entsprechenden Sonderabteilungen der Panoptiken entwickelt hatten (3). Wie einige seiner Kollegen auch, hatte sich Pierre Spitzner einen falschen Doktortitel zugelegt.
Delvaux beschreibt das Spitzner-Museum als "ziemlich lange Hütte mit Samtvorhängen". "An einer Wand war eine Darstellung von Doktor Charcot, der eine hysterische Frau in Trance einem Auditorium von Wissenschaftlern und Studenten vorführte. Dieses Bild war umso beeindruckender, als es sehr realistisch gemalt war. Mitten im Eingang zum Museum saß die Kassiererin, umgeben von einem menschlichen Skelett und, mehr im Vordergrund, von einer mechanischen Puppe in einer Glasvitrine: die Schlafende Venus. An der anderen Wand hing eine Darstellung Doktor Pasteurs am Krankenbett eines Kindes. Im Innern des Museums gab es eine Reihe ziemlich schrecklicher und dramatischer anatomischer Wachsabgüsse, an denen man die Schrecken der Syphilis und der Missbildung studieren konnte. Und das alles mitten in der hektischen Fröhlichkeit der Kirmes. Dieser Kontrast war so erregend, dass ich tief beeindruckt war. Ich kann ihnen versichern, dass dies lange Zeit große Auswirkungen auf mein Leben gehabt hat." (4)

Die erwähnte "Schlafende Venus", die Wachsfigur einer schönen jungen Frau, war Bestandteil vieler Wachsfigurenkabinette und zielte wie einige andere Exponate auch vor allem auf die Schaulust bzw. die Phantasien des männlichen Publikums. Eine besondere Variante, die ebenfalls bei Spitzner ausgestellt war, stellte die "Anatomische Venus" dar.  Eine "Anatomische Venus" ließ sich zerlegen und ermöglichte so den Blick in das Innere des Körpers. Sie war oft das wertvollste Stück der Sammlung und wurde i.d.R. vom Besitzer persönlich vorgeführt.

Die Schlafende Venus aus Spitzners Panoptikum war ein immer wiederkehrendes Motiv bei Paul Delvaux: "Jede Schlafende Venus, die ich gemalt habe, hat dort ihren Ursprung. Sogar die, die in London in der Tate Gallery hängt. Sie ist die exakte Transkription der Schlafenden Venus aus dem Spitzner-Museum, allerdings mit griechischen Tempeln oder Schaufensterpuppen, mit allem, was sie wollen. Das Drumherum ist gleichgültig, aber das tiefe Gefühl hat seinen Ursprung dort." (5)

Spitzner präsentierte in seiner umfangreichen Sammlung besonders vielfältige und makabere, aber auch sehr qualitätsvolle Wachsmodelle, die "derart lebensnah und gleichzeitig befremdlich wirkten", dass sie außer Delvaux "mehreren Surrealisten zu neuen Ideen und Sehweisen verhalfen." (6) 
Die Vermutung liegt nahe, das auch der berühmte Prolog im Film "Der andalusische Hund" von Bunuel und Dalí (1928/29) von einer Moulage in Spitzners-Sammlung oder einem anderen "anatomischen Museum" inspiriert war. Moulagen diverser Operationstechniken bildeten einen Hauptbestandteil dieser Panoptiken, wobei die obligatorische Darstellung des Starstechens noch zu den harmloseren Beispielen zählte. Bunuel will durch einen Traum zu seiner Szene angeregt worden sein - vielleicht war es letztlich aber der Besuch in einem Panoptikum: 

"Der andalusische Hund" - Szenenbild aus dem Prolog
Moulage aus Spitzners Sammlung (7)


(1) Barbara Emerson: Delvaux. Antwerpen 1985, S.57
(2) http://en.wahooart.com/A55A04/w.nsf/Opra/BRUE-7ZS7EQ
(3) siehe www.schaubuden.de , Kapitel I
(4) Emerson 1985, S.57f
(5) ebenda, S.119
(6) Der Spiegel 23/1985, S.210f
(7) Guido van Genechten: Kermis. Het Spiegelpaleis van het Volk. Gent 1986, S.186


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Samstag, 16. Juli 2011

Der Vegetarier als Freak

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Zum Beginn des 20. Jahrhunderts Jahren waren für weite Teile der Bevölkerung den Möglichkeiten zum Ausleben der eigenen Individualität noch Schranken gesetzt, ein "standesgemäßes", den allgemeinen Vorstellungen entsprechendes "normgerechtes" Aussehen war selbstverständlich. Um so größer war das Interesse  am "Abnormen", am "Andersartigen", von dem nicht zuletzt die Schaubudenbesitzer profitierten. Ein Beispiel sind die Ganzkörpertätowierten, die früher häufig ihr Auskommen als Schauobjekte fanden und heute kaum noch beachtet werden. Das Schaulust am "Abnormen" ist dabei durchaus nicht zurückgegangen, ihre Objekte sind nur zum Teil andere geworden - und die Orte ihrer Präsentation ...
Auch nicht konforme Verhaltensweisen weckten stets die Neugier. Obwohl der Vegetarismus zur Jahrhundertwende bereits viele Anhänger hatte und sich in der Folgezeit zu einer recht breiten Bewegung entwickelte, konnte der Vegetarier Josef Weisgärber aus seiner "abnormalen" Lebensführung sogar Profit schlagen:

Sammlung Nagel