Sonntag, 9. November 2014

Totgesagte leben länger



Abbildung aus dem Führer einer "Anantomi-
schen Ausstellung" vom Anfang des 20. Jh.
 Sammlung Nagel


Das Dresdner Hygienemuseum zeigt zur Zeit in der Sonderausstellung "Körper-Blicke-Sensationen" Wachsfiguren und Moulagen des Wachskabinetts der Familie Hoppe.
Obwohl die Zeit solcher "Anatomischen Museen" (1) schon lange vorbei war, reiste die Schau "Der Mensch in gesunden und kranken Tagen" bis in die Mitte der 1980er Jahre von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, und bot seinem Publikum Einblicke in die innere Beschaffenheit unseres Körpers und nicht zuletzt in verschiedene abstoßende krankhafte Veränderungen desselben. Die Besucher werden diese Show in erster Linie als nostalgisches Relikt vergangenen Kirmeszaubers angesehen haben, dabei aber jener eigentümlichen Mischung aus Ekel, Faszination, Voyeurismus, Grusel und Neugierde erlegen sein, die schon unsere (Ur-)Großeltern erfasste. Letztere trieb vordergründig Wissbegier in diese "wissenschaftlichen" Museen zur Volksaufklärung, letztlich ging es aber wie bei allen Schaustellungen - und heutigen "lehrreichen" "Anatomischen Ausstellungen", deren Exponate allerdings von ganz anderer Beschaffenheit sind (2) - häufig um Sensationsgier und Schaulust.
Dass frühere Anatomische Schaustellungen dabei durchaus zur "Volksgesundheit und -aufklärung" beigetragen haben, ist damit nicht in Abrede gestellt, waren die Informationsdefizite weiter Kreise der Bevölkerung beispielsweise in Bezug auf die Schwangerschaft doch besonders groß. Hinzu kam die Drastik, mit der die Folgen einer ungesunden Lebensführung, (Geschlechts-)Krankheiten oder gar stümperhafte Abtreibungsversuche durch die wächsernen Lehrstücke vor Augen geführt wurden.

Die Dresdner Ausstellung vermittelt nicht zuletzt durch die hervorragende Ausführung der Arbeiten erstklassiger Modelleure viel von dem besonderen Reiz, den solche Objekte in früheren Zeiten ausgestrahlt haben. Dabei bedient sich die museale Konzeption nicht der "Panoptikumsmethode" (3) - was hier mehr als nahe gelegen hätte: Statt die Ausstellungsstücke quasi in den ihnen angestammten Raum durch seine Nachempfindung zurückzuführen, werden sie unter Würdigung ihrer kunsthandwerklichen Qualität in einem modernen musealen Rahmen präsentiert, der darüber hinaus Bezüge zur zeitgenössischen Kunst sowie zum Surrealismus (4) aufzeigt.

(2) ... Totgesagte leben länger: Werbung einer
 reisenden "Anatomischen Ausstellung" 
zu Beginn des 21. Jahrhunderts

(1) siehe Kapitel 1 von www.schaubuden.de
(3) siehe http://schaubuden.blogspot.de/2013/02/mehr-oder-weniger-wilde-und-die.html
(4) siehe http://schaubuden.blogspot.de/2011/07/der-falsche-doktor-und-die-surrealisten.html

Donnerstag, 17. Juli 2014

Der hat ja wohl 'nen Vogel ...


In diesem Jahr kam Rüdiger Beckers lesenswerte und aufschlussreiche Dissertation „Circusmusik in Deutschland“ von 2008 (http://kups.ub.uni-koeln.de/2668/) in Buchform heraus.
Trotz eigener intensiver und fruchtbarer Beschäftigung mit wichtiger Literatur orientierte sich Becker bei einigen geschichtlichen Inhalten streckenweise sehr weitgehend an meiner Examensarbeit von 1989 mit dem Titel „Fahrende Artisten in Deutschland“. Dies gilt insbesondere für verschiedene Aspekte des niederen Spielmanns im Mittelalter, aber auch für Aussagen zu Komödianten und Gauklern der frühen Neuzeit sowie die frühe Circusgeschichte bis hin zu den Familiencircussen am Ende des 20. Jahrhunderts. Mitunter wurden sogar Begrifflichkeiten wie „Fahrende Unterhaltungskünstler“ übernommen, darüber hinaus zitiert Becker gerne Passagen aus anderen Büchern, die auch ich schon für erwähnenswert hielt – Zufälle gibt ’s …
Häufigere Kennzeichnungen indirekter Zitate, wie sie Becker ansonsten durchaus in angemessenem Maß vornimmt, wären sicherlich angebracht; weitaus ärgerlicher noch ist aber der Umstand, dass bei den vorhandenen indirekten und direkten Zitaten im Text mit einer einzigen Ausnahme die fiktive Quelle „Vogel 1989“ statt „Nagel 1989“ angegeben wird.
Die Arbeit wird dabei korrekt im Literaturverzeichnis aufgeführt, wahrscheinlich hat sie Becker im Marburger „Circus- und Varietéarchiv“ entdeckt, dessen Leiter damals ein Exemplar geschenkt bekam. Ich hege die Vermutung, dass sich Becker hier weit weniger frei bedient hätte, wenn die Arbeit allgemein zugänglich wäre. Ebenso könnte die wiederholte Vertauschung des Autorennamens dafür sprechen, dass der Umfang der Nutzung der Arbeit weniger deutlich hervortreten soll. Die einmalige korrekte Angabe lässt ein Versehen dabei eher unwahrscheinlich erscheinen.


Mittwoch, 4. Juni 2014

Im Angesicht des Todes


 Domenica del Corriere 9.Sept.1962, Titelillustration von Walter Molino (Sammlung Nagel)

Der Tod scheint allgegenwärtig im Artistenmilieu: "Todesmutige" Dompteure stecken den Kopf in den Rachen der Bestie, Hochseilläufer spielen in schwindelnder Höhe mit ihrem Leben, Artisten präsentieren den legendären "Salto Mortale", ... - die Liste "lebensgefährlicher" Darbietungen ist unüberschaubar.
1924, Sammlung Nagel
"Der Artist bittet nach der Darbietung um ein Extra-Salär. Dieses Geld dient allein der Absicherung im Unglücksfall. Aufgrund der Gefährlichkeit der Darbietung ist keine Versicherung bereit, ihn aufzunehmen."

"Todeswand", "Todeskugel" oder "Todesrad" - die (Über-)Betonung ihrer Gefährlichkeit soll die artistische Attraktion aufwerten und nicht zuletzt sensationsheischendes Publikum anziehen. Es scheint allerdings fraglich, ob dieses Publikum, wie oft kolportiert, auf das Misslingen, den fatalen Fehler tatsächlich aus ist: Der frenetische Applaus nach einer spannungsgeladenen gefährlichen Darbietung ist nicht zuletzt auch ein Ausdruck der Erleichterung darüber, dass, wie zu erwarten, alles gut gegangen ist.
Nervenkitzel, Mut und Risikobereitschaft der Akteure wirken an sich. Vor allem aber übt die "Todesverachtung", das (vermeintliche) "Spiel mit dem Tod", eine eigentümliche Faszination aus, die zahlreiche interessante psychologische Deutungen nahelegt ...

Unfälle in Menagerien wurden in den illustrierten Zeitschriften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen und durch in der Regel recht reißerische Grafiken illustriert. Dieser Holzstich unterscheidet sich dabei von den zahlreichen anderen Illustrationen, die Angst, Schrecken und Panik wiedergeben: Die junge Dompteuse ist gestürzt und somit ihrer "Alpha-Stellung" beraubt. Ein Löwe hindert sie mit seiner Pranke daran, sich wieder zu erheben, die anderen Raubtiere reagieren hoch nervös auf die ungewohnte Situation, die in wenigen Augenblicken zu eskalieren scheint. Die Tierbändigerin indes zeigt keinerlei Anzeichen von Todesangst oder Panik. Entweder hat sie sich ihrem Schicksal ergeben oder aber die kaltblütige Schöne will die Bestien nicht durch Anzeichen von Angst zum finalen Angriff reizen. "Todesmutige" Raubtierbändigerinnen verkörperten einen selbstbewussten Frauentypus, der im schärfsten Gegensatz zum Rollenverständnis ihrer Zeit stand. (Sammlung Nagel)


Dienstag, 7. Januar 2014

Kirmestreiben


Karussells boten in früheren Zeiten nicht nur Kindern ein Vergnügen.
Später wurde mit Vorliebe bei  Raupenbahnen und Autoscootern geflirtet.
(Abbildung aus einer französischen Illustrierten von 1941, Sammlung Nagel)

Detail einer Bildpostkarte um 1900, Sammlung Nagel
Viele Vergnügungen auf der Kirmes waren seit jeher erotischer Natur. Für die junge Landbevölkerung bot der Jahrmarkt im nächstgelegenen größeren Ort eine der wenigen Möglichkeiten, in einer gelösten Atmosphäre Kontakte mit dem anderen Geschlecht außerhalb des eng begrenzten Lebensraums zu knüpfen, und oft war der Jahrmarkt gleichzeitig auch ein "Heiratsmarkt".
Hierin mag der der Grund dafür liegen, dass sich der "Rummel" zum Ort eines ausgelassenen, ja enthemmten Treibens entwickelte, das allenfalls noch mit dem Karneval oder den alten Narrenfesten zu vergleichen war. Die Traditionen, die sich vielerorts mit diesem "Kirmestreiben" entwickelt haben, ähneln daher auch nicht von ungefähr denen des Karnevals - bis hin zum abschließenden Verbrennen einer Puppe bzw. Vergraben eines Tierknochens, die gleichsam für die "Sünden" der vergangenen Tage standen.

"Lockvogel" vor einer amerik. Schau der 40er
Sammlung Nagel

Ein erotisches Fluidum verbreiteten darüber hinaus zahlreiche Schaubuden (siehe die Kapitel 6 und 8 unter www.schaubuden.de) sowie nicht zuletzt Bemalungen auf Schau-, Belustigungs- und Fahrgeschäften aller Art. Erwin Ross, "der Rubens von der Reeperbahn", war nicht von ungefähr auch als Schaustellermaler tätig.










Detail einer Malerei von Fritz Laube auf einem Belustigungsgeschäft



Als einen Grund für das vermeintlich maß- und sittenlose Treiben auf den Jahrmärkten beschreibt R. Wunderer in seinem sehr tendenziösen Buch "Hexenkessel der Erotik" (Stuttgart 1963), den "schlechten Geschmack der Masse".
Diese breite Masse hatte auf den Festplätzen dabei stehts ihre Favoriten, wenn es ums Näherkommen und Flirten ging. In früheren Zeiten war dies das "Teufelsrad" - ein "Belustigungsgeschäft" im wahrsten Wortsinn, das seinerzeit wie kein anderes für ungezwungenes Vergnügen stand.

Ringelpiez mit Anfassen: Illustration aus einer Zeitschrift von 1911
Sammlung Nagel