Samstag, 1. März 2008

Himmelreicher


Seiltänzler Knie! Wenn de fällscht, bischte hi!“
Ja, das könnt euch so passe! Da drauf wart ihr ja bloß! Aber damit is nix! Was en echter Seiltänzler is, stirbt im Bett!!“ (Carl Zuckmayer, Katharina Knie)


Holzschnitt von Edmund Schaefer-Osterhold, Sammlung Nagel

In den frühen 1970er Jahren kamen sie noch in unser Dorf: Die „Trabers“, wie wir alle Hochseiltruppen nannten. Das Seil wurde von einem Mast hoch zum Kirchturm gespannt, war also ein typisches schräges „Turmseil“. Die dem abendlichen Himmel entgegen schreitenden Artisten bilden eines der Bilder meiner Kindheit, die sich fest in meine Erinnerung eingebrannt haben. Vor dem lautstark angekündigten Höhepunkt der Vorstellung, der Motorradfahrt mit Produktionen auf dem unter der Maschine angebrachten Haltetrapez, gingen die bunt berockten Frauen unter den zahlreich zusammengekommenen Dorfbewohnern sammeln. Währenddessen versäumte es die Stimme aus dem Lautsprecher selbstverständlich nicht, darauf hinzuweisen, dass aufgrund der Gefährlichkeit der Darbietungen keine Versicherung bereit sei, die todesmutigen Artisten aufzunehmen.

Souvenirkarte der Oskani-Truppe, 1960er Jahre


Der Lauf auf dem Schrägseil ist kräftezehrend und die Arbeit auf einem waagerecht angebrachten Hochseil ermöglicht ein größeres Trick-Repertoire. Arenen, die solche Produktionen zeigten, sind die Keimzelle nicht weniger populärer Circusse und das Hochseil gehört neben dem Flugtrapez zu den Klassikern unter den akrobatischen Höhepunkten großer traditioneller Circusprogramme.

Durch herausragende Leistungen konnten viele Seiltänzer regionale Bekanntheit erlangen und sich somit eines guten Zuspruchs gewiss sein. Wilhelm Kolter war sogar im gesamten deutschen Sprachraum eine Berühmtheit, die nicht zuletzt von seiner geschickten „Vermarktung“ durch geschickt gestreute Anekdoten herrührte. Die bekannteste dieser Geschichten findet Erwähnung in Fontanes Novelle „Unterm Birnbaum“.
Einer internationalen Öffentlichkeit wussten und wissen sich die Stars der Szene durch spektakuläre Überquerungen ins Bewusstsein zu rufen. So ist Blondin, „der Bezwinger der Niagara-Fälle“, bis heute vielen ein Begriff; und in unseren Tagen sind es u.a. Freddy Nock, Falko Traber und Nik Wallenda, die weltweit für Aufsehen sorgen.

Jenseits solch spektakulärer Aktionen bilden Engagements auf Großveranstaltungen das hauptsächliche Geschäft der meisten verbliebenen unter freiem Himmel arbeitenden Truppen, die ihre Seile mit Ausnahme der Oskani-Truppe schon lange nicht mehr regelmäßig über Dorf- und Marktplätze spannen. Die klangvollen Namen, die für diese ursprüngliche Form der Publik-Artistik stehen, sind jedoch die alten, darunter Bügler, Neigert, Nock, Stey, Traber, Wallenda und Weisheit. Der Hang zum Risiko scheint diesen „Komödianten“ „im Blut“ zu liegen: Viele Auto-Stuntshows haben ihre Wurzeln in Bereich der Hochseilartistik, darunter „Bossles Teufelskerle“.


Der Seiltanz tauchte schon früh als Thema in der Literatur auf. Der unbekannte Verfasser des „Till Eulenspiegel“ stellte Anfang des 16. Jahrhunderts seinen „Helden“ als Narren und Seiltänzer dar und spiegelte damit die Tatsache, dass sich seinerzeit in der Figur des „niederen Spielmanns“ Narr, Akrobat und Musiker häufig vereinten.

kolorierter Kupferstich um 1900, Sammlung Nagel

Goethe zeichnete in seinem „Wilhelm Meister“ ein wenig schmeichelhaftes, aber recht anschauliches Bild einer Seiltänzergesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts.
Carl Zuckmayer setzte den fahrenden Truppen mit seinem „Seiltänzerstück“ „Katharina Knie“ in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts hingegen ein recht volkstümliches literarisches Denkmal. Die in folgendem Zitat vorscheinende verbreitete Vermutung über die Herkunft bzw. ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „Himmelreicher“ mag so nicht stimmen, schön ist die Textstelle allemal:
(…) weißt du, Mädche – ich hab oft gedacht, wanns ma so nachts enauf guckt bei der Vorstellung un sieht ein aufm hohe Seil gehen: Der geht ja grad von Stern zu Stern (…) – un weißt du, wie sie uns früher genannt hawwe, unser Zunft – vor fünf-, sechshundert Jahr erum? Die Himmelreichmänner hawwe se uns damals geheiße! Vielleicht hawwe se wirklich geglaubt, daß unsereins leichter nuffkommt wie andere Leut. Aber mir komme ja auch rascher runner (…)“

Das Bild des auf dünnem Seil balancierenden Seiltänzers war insbesondere für Lyriker von besonderer Faszination, u.a. widmeten ihm Jean Genet und Georg Heym bedeutende Gedichte – oder auch Klabund:
Der Seiltänzer
Er geht. Die schräge Stange trägt ihn linde.
Der Himmel schlägt um ihn ein Feuerrad.
Ein Lächeln fällt von einem mageren Kinde,
Und an dem Lächeln wird die Mutter satt.

Ein jeder fühlt sich über sich erhaben
Und tänzelt glücklich auf gespanntem Seil.
Die Menschen wimmeln braun wie Küchenschaben,
Und sind dem Blick der Höhe wehrlos feil.

Dort unten hockt in schmutzigen Galoschen
Das Niedere und Gemeine, und es hebt
Die Stirn zur Höhe für zwei povre Groschen,
An denen feucht der Schweiß des Werktags klebt.




Einige Artistik-Experten schätzen den Anspruch von Freiluft-Hochseilshows nicht ganz so hoch ein, zumal die vermeintliche Gefahr durch intensives Üben des Auffangens am Seil bei einem Sturz geringer sei, als gemeinhin angenommen.
Trotzdem fasziniert mich diese alte Kunst von allen artistischen Disziplinen am meisten. Es sind nicht in erster Linie der eigentlich Lauf oder die beachtlichen Gleichgewichts-Kunststücke, die zwischendurch gezeigt werden, und ganz bestimmt nicht vorwiegend Nervenkitzel, Sensationsgier oder gar die „insgeheime“ Erwartung eines Sturzes – im Circus mag ich gefährliche Sensationsnummern nicht. Es ist vielmehr das, in jeder Hinsicht, absolut Reduzierte, Puristische, Konsequente dieser Kunst, verbunden mit einer äußersten Hingabe im Moment ihrer Ausübung. Da sind nur das Seil in großer Höhe, der Mut, das Können – und der Tod im Falle des Versagens. Letzterer gehört dazu, ist stets Teil der Show, der Kunstausübung - als Konsequenz des Versagens. Hierauf lässt sich ein Hochseilläufer im Vertrauen auf sich immer wieder ein – und gewinnt. Das Selbstvertrauen im weitesten Sinn, die reißerisch so genannte „Todesverachtung“ ist das eigentlich Beachtliche dieser anachronistischen Kunstausübung.

„Ich wäre nicht überrascht, dass du, wenn du auf der Erde gehst, hinfällst und Dir dabei etwas verrenkst. Das Seil wird dich weit besser tragen, viel sicherer als eine Straße.“ (Jean Genet)


Zwischenfälle waren immer schon ein "gefundenes Fressen" für die Boulevard-Presse -
hier eine Illustration von Walter Molino für "Domenica Corriere" (1959)



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