Bild- sowie direkte und indirekte Textzitate nur unter genauer Quellenangabe! Stefan Nagel: www.schaubuden.blogspot.de
Montag, 17. März 2008
Lyrische Fleischbeschau
Das Interesse an den zahlreichen "Riesendamen" in Jahrmarktsschaubuden der Jahrzehnte um die vorletzte Jahrhundertwende dürfte oftmals erotischer Natur gewesen sein. Folgerichtig bestand das Publikum vorwiegend aus Männern, und nicht selten werden erotische Phantasien den Anstoß zur "Fleischbeschau" in den Buden gegeben haben.
"Und ich bin die schöne Wally,
zu Zürich in der Schweiz geboren.
Ick wieje 867 Pfund.
Soeben wird ein Kavalier
auf meinen Busen steigen.
Aba nur anständig,
meine Herren!"
(Text und Zeichnung von Heinrich Zille) (1)
Joachim Ringelnatz setzte den Riesendamen ein literarisches Denkmal:
Die Riesendame der Oktoberwiese
Die Zeltwand spaltete sich weit,
Und eine ungeheure Glocke wuchtete Herein.
"Emmy, das größte Wunder unsrer Zeit!"
Dort, wo der Hängerock am Halse buchtete,
Dort bot sich triefenden Quartanerlüsten
Die Lavamasse von alpinen Brüsten,
Die majestätisch auseinanderfloß.
"Emmy, der weibliche Koloß."
Hilflose Vorderschinken hingen
Herunter, die in Würstchen übergingen.
Und als sie langsam wendete: - Oho! -
Da zeigte sich der Vollbegriff Popo
In schweren erzgegoßnen Wolkenmassen.
"Nicht anfassen!"
Und flüchtig unter hochgerafften Segeln
Sah man der Oberschenkel Säulenpracht.
Da war es aus. Da wurde gell gelacht.
Ich wußte jeden Witz zu überflegeln,
Und jeder Beifall stärkte meinen Schwung.
Die Dicke schwieg. Ich gab die Vorstellung.
Besonders lachten selbst recht runde Leute.
Ich wartete, bis sich das Volk zerstreute.
Nacht war es worden. Emmy ließ sich dort,
Wo sie gestanden, dumpf zum Nachtmahl nieder.
Sie schlang mit Gier, doch regte kaum die Glieder.
"Sag, Emmy, würdest du ein gutes Wort,
Das keinen Witz und keine Neugier hat,
Von Einem, der dich tief betrauert, hören?"
Sie sah nicht auf. Sie nickte kurz und matt:
"Nur zu ! Beim Essen kann mich gar nichts stören."
"Emmy! Du armes Wunderwerk der Zeit!
Du trittst dich selbst mit ordinären Reden,
Mit eingelerntem hohlen Vortrag breit.
Du läßt die schlimme Waffe deines Fettes
Von jedem Buben, jeder Dirne kneten.
Man kann den Scherz vom Umfang deines Bettes,
Der Badewanne bis zum Ekel spinnen.
Und so tat ich. Und konnte nicht von hinnen.
Ich dachte mich beschämt in dich hinein.
Es müßte doch in dir, in deinem Leben
Sich irgendwo das Schmerzgefühl ergeben:
Ein Dasein lang nicht Mensch noch Tier zu sein."
Hier hielt ich inne, dachte zaghaft nach.
Bis ein Geräusch am Eingang unterbrach.
Es nahte sich mit wohlgebornen Schritten
Der Elefant vom Nachbarzelt
Und sagte: "Emmy, schwerste Frau der Welt,
Darf ich um einen kleinen Beischlaf bitten?"
Diskret entweichend konnte ich noch hören:
"Nur zu! Beim Essen kann mich gar nichts stören." (2)
André Heller schrieb ein wortgewaltiges Lied über eine Obsession -
Miruna, die Riesin aus Göteborg
(...)
Die war's,
Die Vater am meisten begehrte.
In seinem Nachlass fand ich Schatullen
Voll der Affichen und Photographien.
Nächtebücher tragischer Jauchzer,
Die Iventur seiner Träume.
Zöpfe, wie schmale Weidenstämme
Hände, wie große Tschinellen
Brüste, wie seltene Zwillingsschwämme
Achselhöhlen, wie Antoniuskapellen.
Das hat er in seiner verkrochenen Schrift
Unter "ICH WÜNSCHE", notiert
Und sich, so wie ich ihn kannte,
Dafür tagtäglich geniert.
Vater, ich bete,
Dass sich Dein Wünschen
In Deiner nächsten Verwandlung erfüllt,
Auf dass dich die Königin der Riesen
An ihren weißen Schwämmen stillt.
Wenn ich die Augen schließe,
Seh ich's schon ganz genau:
Du mein missratener Vater
Mit Deiner gelungenen Frau.
Ich nähe euch Hochzeitskleider
Um die frierenden Seelen herum
In der erlösten Landschaft
Riecht der Südwind nach
Gummi Arabicum. (3)
(1) Gerhard Flügge: Das dicke Zillebuch. Berlin 1971
(2) Joachim Ringelnatz - Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Berlin 1983
(3) André Heller: Verwunschen (LP). Mandragora 1980
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