Freitag, 23. Mai 2008

Pardauz!

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Obwohl sie sehr einfach gestaltet sind, zählen die über 100 Jahre alten Ankündigungszettel reisender Marionettentheater zu den interessantesten Stücken meiner kleinen Sammlung.
Im 19. Jahrhundert boten zahlreiche Marionettenspieler vor allem einem ländlichen Publikum Abwechslung im oftmals eintönigen Alltag. Gespielt wurde vornehmlich in Gasthaussälen.
Star des Ensembles war stets die triebbestimmte, verfressene, teils anarchistische Gestalt des Kaspers, eine durchaus widersprüchliche Figur, die gleichermaßen kindlich-naiv und gerissenen sowie furchtlos und feige sein konnte – eine Identifikationsfigur des Publikums eben.

Ausschnitt eines Zettel von Max Dreyßigs Marionettentheater; Sammlung Nagel
Der Kasper machte auch aus tragischen, hochdramatischen Stoffen ein Lustspiel.
„Kasper wird als Räuber den geehrten Theaterfreunden einen heiteren und fröhlichen Abend bereiten.“


Selbstverständlich spielte er auch im sehr verbreiteten Ritterschauspiel „Genoveva, die Pfalzgräfin vom Rhein oder Sieben Jahre unschuldig verstoßen in der Wildnis“ eine tragende Rolle:
„Da war unter den Dienern auf der Burg einer im gelben Nankinganzug, der hieß Kasperl. Wenn dieser Bursche nicht lebendig war, so war noch niemals etwas lebendig gewesen; er machte die ungeheuersten Witze, so dass der ganze Saal vor Lachen bebte; (…).“


Sammlung Nagel
Theodor Storms „Pole Poppenspäler“ ist ein wunderbares literarisches Zeugnis dieser einst sehr verbreiteten populären Kultur. Hier wird auch beschrieben, wie der Kasper in das ebenfalls sehr beliebte Faust-Stück eingeführt wurde:
„Ein hochgewölbtes gotisches Zimmer zeigte sich. Vor einem aufgeschlagenen Folianten saß im langen schwarzen Talar der Doktor Faust und klagte bitter, dass ihm all seine Gelehrsamkeit so wenig einbringe; keinen heilen Rock habe er mehr am Leibe und vor Schulden wisse er sich nicht zu lassen; so wolle er denn jetzo mit der Hölle sich verbinden. – ‚Wer ruft nach mir?’ ertönte zu seiner Linken eine furchtbare Stimme von der Wölbung des Gemaches herab. ‚Faust, Faust, folge nicht!’ kam eine andere, feine Stimme von der Rechten. – Aber Faust verschwor sich den höllischen Gewalten. – ‚Weh, weh deiner armen Seele!’ Wie ein seufzender Windeshauch klang es von der Stimme des Engels; von der Linken schallte eine gellende Lache durchs Gemach. – Da klopfte es an die Tür. ‚Verzeihung, Euere Magnifizenz!’ Fausts Famulus Wagner war eingetreten. Er bat, ihm für die grobe Hausarbeit die Annahme eines Gehilfen zu gestatten, damit er sich besser aufs Studieren legen könne. ‚Es hat sich’, sagte er, ‚ein junger Mann bei mir gemeldet, welcher Kasperl heißt und gar fürtreffliche Qualitäten zu besitzen scheint.’ – Faust nickte gnädig mit dem Kopfe und sagte: ‚Sehr wohl, lieber Wagner, diese Bitte sei euch gewährt.’ (…) ‚Pardauz!’ rief es; und da war er. Mit einem Satz kam er auf die Bühne gesprungen, dass ihm das Felleisen auf dem Buckel hüpfte.“
Am Ende des Stückes, bevor Gretel und Kasper den traditionellen Kehraus tanzen, wird Faust unter Feuerregen und Donnergrollen von Teufeln in die Höhle gezehrt. In diesem letzten Aufzug hat Kasper eine neue Rolle:
„Endlich ist die Frist verstrichen. Faust und Kasper sind beide wieder in ihrer Vaterstadt. Kasper ist Nachtwächter geworden; er geht durch die dunklen Straßen und ruft die Stunden ab:
‚Hört ihr Herrn, und lasst euch sagen,
Meine Frau hat mich geschlagen;
Hüt’t euch vor dem Weiberrock!
Zwölf ist der Klock! Zwölf ist der Klock!’
Von fern hört man die Glocke Mitternacht schlagen. Da wankt Faust auf die Bühne; er versucht zu beten, aber nur Heulen und Zähneklappern tönt aus seinem Halse. Von oben ruft eine Donnerstimme:
‚Fauste, Fauste, in aeternum damnatus es!’“



Die verbliebenen reisenden Marionettentheater präsentieren fast ausschließlich nur noch Märchenstücke für Kinder, wobei allerdings die Figur des Kaspers in altbewährter Manier eingebunden wird. Einige Puppenspieler der verbreiteten Sperlich-Sippe zeigen noch solches Puppentheater, zum Teil sehr gut gespielt. Die besten Aufführungen erlebte ich 1990 im Zelt-Marionettentheater von Siegfried Pandel, der im Anschluss an das Hauptstück wie alle besseren Spieler noch Varieté- oder Kunstmarionetten zeigte, die eine besondere Kunstfertigkeit des Puppenspielers verlangen.
Die alten Stücke sind allenfalls noch auf Kulturveranstaltungen und Festivals zu sehen. Besondere Verdienste hat sich hier das Traditionelle Marionettentheater Dombrowsky erworben (http://www.dombrowsky-marionetten.de/). Nachfahren der alten Marionettenspielerfamilie Bille zeigen zumindest noch den Faust (http://www.marionettentheater-bille.de/).
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